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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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offenbar geschlafen, denn als es an der Tür klingelte, war es vollkommen dunkel, und die Fliesen waren kalt. In den Schatten der Wohnung klingelte das Telefon drei Mal, verstummte und klingelte dann erneut. Als ich den schweren Bakelithörer abnahm, legte der Anrufer auf. Ein leises Klicken, dann ertönte der hohle Ton des Freizeichens.
    Der Strom war in der ganzen Stadt gesperrt, aber hier in Herastrau blieb uns das Schlimmste erspart. Mir wurde bewusst, dass kaum noch Verkehr zu hören war, dafür aber ein unablässiges metallisches Klirren, ein Bohren, der Lärm von Motoren. Ich stolperte durch die Dunkelheit, weil ich die Lichtschalter nicht fand, und musste anhand des wiederholten Klingelns erraten, wo sich die Wohnungstür befand.
    Ich öffnete und sah einen kleinen, dicklichen, leicht schwankenden Mann mit schalkhaftem, vom Alkohol gerötetem Gesicht, den ich sofort erkannte, obwohl ich ihn noch nie gesehen hatte. Ich winkte ihn mit einer lässigen Handbewegung herein, die vertuschen sollte, dass ich hier erst seit wenigen Stunden wohnte. Doch ich fühlte mich wohl in Belangers Wohnung, dessen Habseligkeiten, obgleich sie mir nicht gehörten, meinem Wesen zu entsprechen schienen.
    »Leo O’Heix. Erinnern Sie sich?«, sagte mein Besucher und knallte ironisch die Hacken zusammen. Aus seiner Jackentasche ragte eine eingerollte Ausgabe der Parteizeitung Scînteia hervor. Er streckte mir zackig die Hand entgegen, drängelte sich aber an mir vorbei, bevor ich sie schütteln konnte. »Das Bewerbungsgespräch?«
    Ich hatte nie mit ihm gesprochen. Ich hatte mich für ein Dutzend Stellen beworben, war ein halbes Dutzend Mal zu einem Vorstellungsgespräch gebeten, aber nie genommen worden. Als sich der Job in Rumänien anbot, war ich schon so mutlos, dass ich gar nicht erst zum Gespräch erschien, und als ich zwei Tage später einen Brief erhielt, der mich »mit Freuden« darüber in Kenntnis setzte, dass man sich für mich entschieden habe, hielt ich das zunächst für einen Witz. Doch als eine Woche später mein Visum eintraf, begriff ich, dass es kein Witz war. Vielleicht stand die Pointe noch aus? »Du warst sicher der einzige Bewerber – alle anderen haben die guten Stellen abgestaubt, und du bekommst, was übrig ist«, hatte mein Vater gesagt. Damals konnte er ohne Hilfe nicht mehr seine Notdurft verrichten oder essen, aber er konnte sich immer noch dazu aufraffen, sein Gift zu versprühen. In diesem Fall überschätzte er mich allerdings zum ersten Mal, denn ich verdankte diese Stelle der Tatsache, dass ich gar nicht erst zum Gespräch erschienen war.
    Die Pflege meines Vaters während seiner letzten Lebenswochen war eine harte Probe für uns beide. Wenn ich ihn im Rollstuhl durch die Stationen schob, wetterte er gegen falsche Schreibweisen, fehlerhafte Grammatik und überflüssige Apostrophe auf den laminierten schwarzen Brettern des Krankenhauses. Die Arbeitsgewohnheiten steckten ihm noch in den Knochen: Er hatte zwanzig Jahre lang die heißen Druckerpressen in der Fleet Street bedient, die Seiten von Hand gesetzt, sein Handwerk von der Pike auf gelernt und so den Umgang mit Wörtern geübt, eine Fähigkeit, die ein nicht ganz so unglücklicher Mann gewiss besser genutzt hätte. Als er vor drei Jahren gemeinsam mit sechstausend anderen Druckereiarbeitern entlassen werden sollte, spielte er ein paar Wochen lang Streikposten und bewarf Polizeiwagen mit Steinen, aber eines Morgens fuhr er mit den Streikbrechern wieder zur Arbeit. Der Bus, in dem sie saßen, hatte blinde Fenster, war mit Maschendraht umspannt und wurde von einem der neuen privaten Sicherheitsdienste eskortiert. Mein Vater war in politischer Hinsicht gern ebenso heißblütig wie sprunghaft.
    Während er langsam dahinsiechte, sprachen wir nur über Banales, als wollten wir einer Versöhnung aus dem Weg gehen. In den Tagen vor seinem Tod fragte er im Delirium nach ihr, meiner Mutter, und schimpfte, weil sie ihn nicht besuchte. Sogar am Ende seines Lebens fand er noch einen Anlass, um sich aufregen zu können. Sein zähes Rückzugsgefecht, die Art, wie er der Krankheit trotzte und nur Schritt für Schritt zurückwich, obwohl der Krebs ihn schon Monate zuvor hätte besiegen müssen, versetzte den Arzt, der dies als »Grabenkrieg« bezeichnete, in Erstaunen. Ich wusste, was meinen Vater am Leben hielt: die Wut.
    Leo machte Licht und steuerte den Spirituosenschrank noch selbstverständlicher an, als ich ihn hereingewinkt hatte. Er schenkte sich einen
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