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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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zu stammen. Die drei Doppeltüren, die den bescheidenen Eingang vom opulenten Speisesaal trennten, glichen den Dekompressionskammern eines U-Bootes. Sie verhinderten, dass Lärm, Gerüche und Luxus bis auf die Straße drangen, und sie sorgten dafür, dass der Hunger und die Entbehrungen der Straße die Gaumenfreuden im Capsia nicht trübten.
    Kellner in weißen Hemden und dunkelgrünen Westen mit Messingknöpfen umschwirrten die mit Silbergeschirr beladenen Tische. Doch ihre Gesichter passten nicht zu den tadellosen Uniformen: Sie waren bleich und nachlässig rasiert, misslungene Parodien jener Kellner, die in den 1890er Jahren Paris durch einen Streik lahmgelegt hatten, mit dem sie sich das Recht auf einen Schnurrbart erkämpfen wollten. Dennoch war Bukarest angeblich ähnlich gewesen: Eine Insel der Latinität , so mein Reiseführer, der französischen Lebensart, des französischen Stils und des französischen Essens . Ich zog das Buch hervor und suchte das Capsia. Der Reiseführer empfahl »Absinth, Cognac, Magenbitter oder Amers, Curaçao, Grenadine, Orgeat und Sorbet« und beschloss den Rat, das Bukarester Leben »in all seinen Facetten« von der Terrasse aus zu beobachten, mit der Warnung: »Stühle, die unangenehm dicht am Rinnstein stehen, sollte man selbstverständlich meiden.«
    Mein Reiseführer, das einzige Buch über Rumänien, das ich zu Hause hatte auftreiben können, stammte allerdings aus dem Jahr 1899 und hatte im Oxfam-Laden auf der Isle of Dogs zehn Pence gekostet. Leo nahm es mir ab, strich über den strapazierten Einband, den roten, vom Buchrücken baumelnden Faden der Bindung. »Keine Ahnung, wie es um Curaçao, Grenadine, Orgeat und Sorbet bestellt ist, aber den Rinnstein gibt es noch. Und was das Bukarester Leben in all seinen Facetten betrifft, tja, das kann ich dir garantieren …«
    1899 – das war neunzig Jahre her. Damals wurden die aus Frankreich zurückkehrenden Rumänen, den Kopf voll neuester Literatur, am Körper die neueste Mode, bonjouristes genannt. Das Capsia war nicht nur ein Relikt jener Epoche, sondern auch ihr Reliquienschrein: in Leder gebundene Speisekarten mit geprägter Aufschrift, Tischdecken mit Monogramm, silbernes Tafelgeschirr. Auf dem Einband der Speisekarte stand: Chez Capsia. Bienvenue à la gastronomie Roumaine . Zum Dekor – goldene Beschläge, damastene Paravents, hohe tropische Pflanzen mit staubigen Blättern – passte das Streichquartett, das Melodien von Strauss schabte. An den Wänden hingen altersblinde, von Haarrissen übersäte Spiegel. Man hatte das Gefühl, dass Bruchstücke des eigenen Spiegelbilds in diesen Rissen hängen blieben wie Dreck in Fliesenfugen.
    Kellner schoben Servierwagen. Ganz hinten im Raum labte sich eine Gruppe älterer Parteifunktionäre an einem in Cognac flambierten Gericht. Die bläulichen Flammen erhellten ihre Gesichter von unten.
    »So ist das«, sagte Leo mit Blick auf die Männer und lächelte sarkastisch. »Sieh dir das an: Die Partei hat alle Bedürfnisse befriedigt!« Die Männer hoben den Kopf und grinsten kauend. » Bon appétit , Genossen!«
    Der Maître d’hôtel, in prächtiger Livree und mit wolfsartigem Gesicht, führte uns zu einem Tisch an einem Milchglasfenster mit Blick auf den Cercul Militar. Wir konnten hinausschauen, aber niemand konnte hineinsehen. Dies war die rumänische Lebensart, auf den Punkt gebracht im besten Restaurant der Stadt: Kellner schnitten mit sanftem Druck Chateaubriand-Filets, während in den Läden Fliegenfänger vor gähnenden Regalen hingen und die Straßen, bar jeden Verbrechens, die Last ihrer Leere schulterten.
    Wie Leo mir erzählte, war das Capsia der einzige Ort, an dem fast alle Gerichte auf der Speisekarte tatsächlich serviert wurden. »Deshalb ist sie so kurz.« Er legte eine Schachtel Kent auf den Tisch, hier eine Währungseinheit: Tabakbarren. Sie drückten den Wunsch nach besonderer Aufmerksamkeit aus und deuteten an, dass man dafür bezahlen konnte. Leo bestellte eine Flasche Dealul Mare, und sie stand sofort auf dem Tisch, hervorgezaubert hinter dem Rücken des Kellners.
    »Es gibt ein paar Dinge, die du wissen musst …«, setzt Leo an, verteilt den Wein im Mund und schluckt dann ruckartig. Er beendet den Satz nicht, sondern mustert mich zum ersten Mal von Kopf bis Fuß: »Du wirkst wie jemand, der geglaubt hat, kaum etwas mitnehmen zu müssen, aber schon jetzt sein Gepäck vermisst.«
    Ich erwidere, dass ich müde sei, einen Jetlag habe, der sich nicht nur der
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