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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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schon hinein, standen in den Gängen, schleppten ihr Gepäck durch die Wagen. Der Zug nach Bukarest war ein Geisterzug – zwölf Wagen, leer bis auf ein paar Nachrichtenteams. Für Journalisten war Rumänien jetzt eine Goldgrube: offene Grenzen, Straßenkämpfe, Hinrichtung der Ceaușescus, Erstürmung luxuriöser Villen und Paläste.
    Ich setzte mich in ein leeres Abteil. Der Belgrader Regen hatte sich in Schnee verwandelt, der sich draußen auf der Gummidichtung des Fensters sammelte. Ich legte meine Stirn gegen die eiskalte Scheibe und sah zu, wie der Intercity nach Brüssel abfuhr. Zwanzig Minuten später traf das Zugpersonal ein, unrasiert und mit offener, grauer Jacke. Noch einmal zwanzig Minuten, dann sprangen die Motoren an.
    Ein paar Abteile weiter saßen meine einzigen Nachbarn, paramiliärisch aussehende Männer mit schwarzem Barett. Einige schienen bewaffnet zu sein. Alle waren Jugoslawen. Sie rauchten und tranken und hörten Pogrom-Rock. Gleich nebenan saß ihr Boss allein zwischen englischen, deutschen und französischen Zeitungen, ein blonder, muskulöser Mann, der mich von oben bis unten musterte, die Stirn runzelte und die Vorhänge zum Gang zuzog.
    Acht Stunden später, nach rätselhaften Zwischenhalten, Passkontrollen und einem zweistündigen Stopp vor der Grenze, rollten wir in den Bukarester Hauptbahnhof. Dort herrschte das reine Chaos – manche Züge fuhren, andere nicht. Wenn einer fuhr, hingen Männer und Frauen draußen an den Türen, Koffer und Taschen hatte man auf das Dach gebunden, in den Schlafwagen saßen die Leute zu viert auf den Betten.
    Ich konnte mein Abteil zunächst nicht verlassen, denn einer der Jugoslawen mit schwarzem Barett hatte sich vor meiner Tür aufgebaut, damit die restlichen Leibwächter aussteigen konnten. Als ich endlich hinausdurfte, sah ich weiter vorne den großen, blonden Mann, flankiert von seinen Wächtern und Gepäckträgern. Er hinkte stark, schritt aber schnell und kraftvoll aus und verzichtete darauf, seinen Stock zu benutzen, als wollte er sich selbst und allen Leuten in seiner Umgebung beweisen, wie hervorragend er seine Behinderung meisterte. Falls er Leo sah, der vor der leeren Ankunftstafel unter der alten Uhr stand, zeigte er das nicht. Leo sprach in ein Handy, den Rücken halb zu mir, eine aufgerollte Times unter dem Arm. Polizisten waren nicht zu sehen, und obwohl ich in der Ferne Schüsse hörte, schien die Normalität so unaufhaltsam zurückzukehren, wie Unkraut durch Risse im Bürgersteig wächst: Duft nach Brot, Geräusche von Bussen und Straßenbahnen, geöffnete Kioske. Es gab sogar eine neue Zeitung, Adevarul , mit der Schlagzeile »Tyrann vor Gericht«. Ein neues Gedicht von Palinescu wurde auch angekündigt.
    »Was ist denn?«, fragte Leo, als wir einander umarmten. »Du siehst ja aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
    Über seine Schulter erblickte ich Cilea, die mit Sonnenbrille und grauem Pelzmantel an einem schwarzen Mercedes lehnte. Ich spürte, wie sich mein Magen verkrampfte. Zurück aus Paris? Höchstwahrscheinlich war sie nie dort gewesen. Ich behielt Belanger im Blick, drückte Leo weiter an mich, weil ich nicht wollte, dass er sich zu den beiden umdrehte. Cilea sah in meine Richtung, schien mich aber nicht zu erkennen. Ihr Lächeln galt jedenfalls Belanger. Sie warf lachend den Kopf in den Nacken, als er sie hochhob, bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Er setzte sie hinten ins Auto, dann fuhren sie davon.
    »Nein. Ich dachte nur, ich hätte einen Bekannten gesehen«, sagte ich und ließ Leo los. Er zog mich durch die Menge, ein Gegenstrom im Menschenfluss. In seinem Škoda mit der »CC«-Plakette lag ein Schild mit der Aufschrift »Im Auftrag der Übergangsregierung« auf dem Armaturenbrett, auf dem Beifahrersitz ein abnehmbares Blaulicht. Schüsse krachten in der Nähe. Leo schien sie nicht zu hören, aber mehrere Leute duckten sich.
    »Ottilia erwartet dich schon, und ich habe im Capsia einen Tisch für euch bestellt – es wird dich sicher freuen, dass es dort keinen Regimewechsel gegeben hat …«
    »Gut zu wissen.« Die Grabsteinfassaden links und rechts des Boulevards des sozialistischen Sieges waren unbeschädigt, was mir fast unheimlich vorkam. »Und was das übrige Land betrifft, so lass mich raten: Ein neues Bordell, aber die alten Huren – waren das nicht deine Worte?«
    Leo winkte ab. »Ach, du weißt doch, wie das ist: Wenn man von einer Hure eines erwartet, dann Erfahrung …«
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