Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Grim

Grim

Titel: Grim
Autoren: G Schwartz
Vom Netzwerk:
Kapitel 1
    Der Mond hing als silberner Spiegel über den Straßen von Paris. Nur vereinzelt zogen Wolken an ihm vorüber, Spukgestalten mit zerfransten Gliedern, die den Himmel in ein düsteres Meer verwandelten und zitternde Schattenspiele über die Opéra Garnier schickten.
    Grim stand am Rand des Daches, sein Mantel flatterte im Wind, und die Kälte, die seit Tagen durch die Gassen strich wie ein hungriges Tier, glitt gierig über seinen Nacken. Verflucht, er sollte im Warmen sein, er sollte Polizeiberichte lesen oder mit seinen Freunden im Zwielicht sitzen und Karten spielen, er sollte irgendetwas anderes tun, als mitten in der Nacht auf den Dächern der Stadt herumzustehen und den Mond anzuglotzen wie ein verdammter Werwolf. Es fehlte nur noch, dass er den Kopf in den Nacken legte und heulte. Ja, er sollte von hier verschwinden, das war ihm klar. Und doch rührte er sich nicht. Stattdessen starrte er weiter zum Mond hinüber, diesem ruhelosen Zauberer, der seit Urzeiten so tat, als hätte er Antworten auf alle Fragen, und der mit seinem Silberlicht schon Generationen von Menschen in Wahnsinn oder Selbstmord getrieben oder zum Schreiben schwülstiger Gedichte genötigt hatte. Aber nicht nur Menschen und Werwölfe fielen auf ihn herein. Verächtlich stieß Grim die Luft aus. Er sollte es besser wissen. Der Mond gab keine Antworten. Er lachte nur über die Fragen der Welt. Grim schien es fast, als könnte er ihn hören.
    Mit finsterer Miene warf er einen Blick in die Häuserschluchten und spürte wieder das Brennen in seiner Brust, das ihn seit geschlagenen sieben Tagen wie eine Vorahnung Nacht für Nacht aus seiner Kirche trieb und das er seit langer Zeit nicht mehr in dieser Stärke empfunden hatte. Es war dieselbe Unruhe, die ihn vor über zweihundert Jahren rastlos durch Italien getrieben hatte und die ihn, seit er denken konnte, mehr oder minder stark begleitete. Erst einmal war es ihm gelungen, sie vollständig zum Schweigen zu bringen, damals in der Welt der Götter, als er die Flamme des Prometheus geholt hatte. Noch immer fühlte er, wenn er daran zurückdachte, den Rausch der Farben, die Glut des goldenen Himmels, den er dort erschaffen hatte, und das kalte Glühen in seinem Inneren, das jede Anspannung verschlungen hatte. Unendlicher Wind war unter seinen Schwingen gewesen, und wenn er an sein Lachen dachte, das weit über die Wüste geklungen war wie Donner, dann fuhr er zusammen, so schmerzhaft wurde das Brennen in ihm. Doch er erinnerte sich auch an das dämonische Gesicht aus Feuer, das er in jenem Meer erblickt hatte, und wusste, dass die Flamme nicht dafür bestimmt war, von einem Halbwesen wie ihm genutzt zu werden. Und dennoch hatte er sie nicht zurückgebracht in die Welt der Götter. Irgendetwas in ihm hatte ihn daran gehindert, er konnte selbst nicht sagen, was es war. Vielleicht lag es daran, dass er nach all den Jahren in der Stadt des Lichts geglaubt hatte, das Brennen überwunden oder zumindest in die schattenreichen Winkel seines Selbst verbannt zu haben. Doch nun, da sein Leben nach dem Kampf gegen die Schneekönigin seit einigen Monaten wieder in gewohnten Bahnen verlief, kehrte es zunehmend zurück, und je stärker er sich dagegen wehrte, desto heftiger wurde der Schmerz in ihm und desto deutlicher spürte er, dass etwas in der äußeren Welt dieser Unruhe Antwort gab. Etwas lag in der Luft, ein zu kühler Windhauch in den Tunneln der Metro, ein Zittern auf der Wasseroberfläche der Seine wie unter einem mächtigen Beben, ein halt- und namenloses Schweigen vor etwas anderem , das ihn in die schattenhafte Konzentration eines Raubtiers zwang, ohne dass er wusste, worauf er wartete. Die Finsternis in den Gassen war tiefer geworden, etwas zog herauf, das spürte er, und auch wenn er es noch nicht benennen konnte, stand eines fest: Es war schon viel zu lange ruhig geblieben.
    Ein Windstoß fuhr ihm in den Nacken, mit nadelspitzen Klauen strich er über Grims Haut. Diese verfluchte Kälte. Jeder Luftzug fühlte sich an, als trüge er Rasierklingen mit sich. Er zog die Schultern an und ging über das Dach der Oper, dieses Theaters, das mehr einem Wunder glich als einem Gebäude der Menschen. Er spürte sie genau, die Salamander in den Schatten, die ihn beobachteten. Er kannte sie gut, hatte zu lange in den Katakomben gelebt, die sich weit unter der Oper durch das Erdreich wanden, als dass es anders hätte sein können. Er mochte sie nicht sonderlich, und sie waren umgekehrt in glühendem Hass
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher