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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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Dachsparren ragten im Rauch auf. Panzer hatten auf das Gebäude des Zentralkomitees gefeuert und Breschen in die Fassade geschlagen. Porträts von Ceaușescu wurden in den Straßen verbrannt. Scharfschützen schossen aus Fenstern, zwischen den Trümmern lagen die Leichen von Zivilisten. Die Securitate kämpfte in kleinen, tödlichen Trupps; aber wenn man ihre Agenten fasste, wurden sie an Laternenpfählen aufgeknüpft, wo sie, im Wind schwingend, durch Kälte oder Leichenstarre hart wie Bretter wurden.
    In der Nacht des dreiundzwanzigsten Dezembers entdeckten Kamerateams die unterirdischen Folterkammern mit ihrem Gewirr aus Klavierdrähten und den Werkzeugen, die auf den ersten Blick wie Kleiderbügel aussahen, mit freiliegenden Elektrokabeln, Schlauchleitungen, verkrustetem Blut. Die Fußböden waren von Unterlagen und Aktenordnern mit den Namen von Opfern und Folterknechten übersät, die man in der Eile nicht mehr hatte vernichten können. In Rumänien landeten überall Dokumente im Feuer oder in Reißwölfen, doch Menschen mit Weitblick zerstörten nichts, sondern fertigten Kopien an.
    Gegen Mitternacht kehrte ich in das Hotel Bukarest zurück. Man hatte meine Tasche samt allen Devisen gestohlen. Ich war offenbar als einziger beraubt worden, aber die Hotelangestellten wussten sofort, dass über die Grenze gekommene Rumänen die Täter waren: Erst seit ein paar Stunden hier, und schon klauen sie wie die Raben. Der Manager zeigte auf ein Schild, dass ihn von jeder Verantwortung für Schäden oder Diebstahl entband. Als ich mit der Polizei drohte, gab er mir einen Klaps auf den Rücken und lachte so laut, dass seine Schnurrbartenden wild hin und her schwankten. Ich hatte zweihundert Dollar – alles für meine Heimfahrt gedacht – und meine Kleider verloren. Ich hatte nur noch zwanzig Dollar, den Pass in meiner Tasche und den Gedichtband Arghezis, den Trofim mir geschenkt hatte, mit einem Foto von Cilea und mir als Lesezeichen.
    Am Weihnachtsabend fiel in Belgrad Eisregen. Die Grenzen waren offen, und der Strom der nach Westen drängenden Flüchtlinge riss nicht ab. Die Jugoslawen kratzte das nicht, weil ihr Land nur eine Durchgangsstation war. Tausende von Rumänen strömten nach Berlin, Paris, Brüssel. Man filmte sie, wie sie in den Straßen westlicher Städte bettelten oder in Turnhallen auf Decken übernachteten – sie ritten auf einer Welle des Mitleids, und sie taten gut daran, dies auszunutzen, denn schon wenige Wochen später wurden diese »Zigeuner« für zunehmendes Verbrechen, Raubüberfälle und Krankheiten verantwortlich gemacht.
    Ich wollte gleich am Vormittag zum britischen Konsulat. Mit etwas Glück würde ich dort eine Bankgarantie und genug Geld für die Heimreise erhalten. Der Vizekonsul, ein sanfter Typ mit betrübter Miene, trug trotz Kälte einen sommerlichen Anzug und schwitzte aus allen Poren. Er rauchte Kette, zündete eine Zigarette an der anderen an, als müsste er Streichhölzer sparen. Ich füllte einige Formulare aus, danach schoss er genug für Hotel und Essen vor. Alles übrige wurde eigentlich im Laufe von achtundvierzig Stunden geregelt, aber wegen der Weihnachtsfeiertage musste ich mich auf jeden Fall bis zum Neunundzwanzigsten gedulden. Ob ich schon eine Bleibe habe? Er empfahl ein Zweisternehotel an der nächsten Ecke, bei Gästen beliebt, weil es sauber und günstig sei und Fernseher mit Fernbedienung habe. Das Lasta-Hotel – »Messen Sie dem Namen nicht zu viel Bedeutung bei«, sagte er mit müdem Lächeln. Er gab mir seine Karte: Francis Phillimore, stellvertretender Botschaftsleiter . Ich hatte diesen Namen schon einmal gehört, wusste aber nicht mehr, wann oder aus wessen Mund.
    Vor dem Lasta-Hotel bat mich ein Mann um Geld, der aus Timișoara geflohen sein wollte. Ich sprach ihn auf Rumänisch an, aber er verstand mich nicht. Er spuckte aus und ging – die Situation eröffnete bereits neue Möglichkeiten für betrügerisches Betteln. Im Hotel stellte ich fest, dass man den Fernseher nicht vom Bett aus einschalten konnte, weil die Fernbedienung mit einer kurzen Kette am Apparat befestigt worden war, in meinen Augen die konkrete Entsprechung jener absurden Kommunistenwitze, über die ich in Rumänien gelacht, von denen ich gelernt hatte. Ich machte es mir mit einer Flasche Slibowitz und einer Fleischpastete auf dem Bett gemütlich und sah die allerersten Bilder einer Sitzung der Nationalen Rettungsfront. Auch diese haben sich meiner Erinnerung als unauslöschlich
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