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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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reptilienhaft glänzenden Sakkos waren verkohlt, und er hatte eine hässliche Brandwunde am Arm. »Das?«, sagte er stolz, als er meinen Blick bemerkte. »Das nennt man Molotow-Ellbogen, wenn ich mich nicht irre … Zur Zeit ein weit verbreitetes Phänomen.« Er hatte Neuigkeiten: Vor drei Stunden war ein Flugzeug von British Airways gelandet, um alle britischen Staatsbürger sowie jene Botschaftsangehörigen an Bord zu nehmen, die nicht unabkömmlich waren. »Gut, dass man mich benachrichtigt hat«, bemerkte ich. »Ich war in der Botschaft«, sagte Leo, »und habe Wintersmith aufgesucht – angeblich hat er drei Mal bei uns angerufen, immer vergeblich, weil die Leitung tot war. Er hat sich abgesetzt. Als letzter Passagier im Flugzeug und erster Anwärter auf den Verdienstorden des British Empire.«
    Als ich probehalber zum Telefon griff, bekam ich nicht nur sofort eine Verbindung, nein, sie war auch hervorragend: kein Klicken, kein Knistern, keine Abhörgeräusche. Wir wurden nicht mehr belauscht. So viel zu Wintersmiths angeblichen Anrufen, dachte ich.
    »Und noch etwas«, sagte Leo. »Manea möchte dich sehen. Morgen Vormittag bei Cilea. Zehn Uhr. Frag nicht, warum – ich habe auch nicht gefragt. Aber sei um elf Uhr wieder hier, denn ich fahre euch um zwölf zum Flughafen, und niemand weiß, wie die Lage dann aussieht. Außerdem müssen wir ein bisschen Zeit einkalkulieren, weil Fräulein Pullowa durch die Zollkontrollen muss.« Ottilia verneigte sich und sagte etwas auf Russisch.
    Gegen acht Uhr früh war klar, dass Armee und Polizei nur vorübergehend die Oberhand gewonnen hatten. Die Piaţa Republica füllte sich wieder. Heute waren es Tausende von Menschen mehr, und überall in der Stadt wurde friedlich demonstriert. Der Generalstreik hatte das ganze Land lahmgelegt. Der Präsident schwieg seit zwölf Stunden. Es gab keine Schüsse, kein Tränengas, keine Kämpfe, aber immer mehr Sitzstreiks. Gestern waren vor allem Männer auf die Straße gegangen. Jetzt waren es Frauen, Kinder und Alte, ruhig, diszipliniert und würdevoll.
    In Herastrau hatten Wächter Stellung bezogen, warteten auf Befehle, die nie kamen. Mitten im Viertel spürte ich die dumpfe Panik der Nomenklatura, hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, dazubleiben und ihr Eigentum zu beschützen, und dem Drang, sich aus der Stadt in Sicherheit zu bringen. Das Lebensmittelgeschäft der Partei, in der Nähe von Cileas Wohnung, war von den eigenen Kunden geplündert worden: Man hatte das Vorhängeschloss geknackt, und zwei Frauen, die wie Opernsängerinnen wirkten, machten sich mit vollgestopften Koffern aus dem Staub. Sie kauten hastig, versuchten alles zu essen, was sie nicht tragen konnten.
    Der Wächter vor Cileas Wohnung winkte mich durch. Er trug auch keine Uniform mehr, wollte vorsichtshalber als Zivilist gelten. Damals, an jenem Nachmittag im Mai, als Cilea und ich uns hierher zurückgezogen hatten, hatte ich ihn zum ersten Mal gesehen. Seit jenem Tag schien ein ganzes Jahrzehnt vergangen zu sein. Auf jeden Fall ein ganzes Regime. Auf dem Innenhof standen kahle, zitternde Bäume, der Schnee war geschaufelt worden, das Gras hielt Winterschlaf, die Blumenkästen waren leer. Ich schien mich in diesem Anblick verloren zu haben, denn der Mann klopfte gegen die Scheibe seines Wachhäuschens, forderte mich mit einer Geste auf, einzutreten.
    Cileas Wohnzimmer war jetzt eine Kommandozentrale. Manea Constantin lag auf einem breiten Sofa, den Kopf auf türkische Kissen gebettet, ein Bein von Knöchel bis Knie in Gips. In einem Fernseher lief ein deutsches Satellitenprogramm, das Bilder von den Ereignissen zeigte, die sich nur wenige hundert Meter entfernt abspielten; ein zweiter Apparat bot ein Testbild und patriotisches Liedgut. Einer von Maneas Männern fütterte einen Reißwolf mit Unterlagen, ein anderer stopfte die Papierfetzen in schwarze Säcke. Von Cilea keine Spur.
    Neben Constantin standen Telefone, blinkend wie Lichter auf Polizeiwagen. Nebenan hörte ich Cinzia mit leiser, ruhiger Stimme Anrufe entgegennehmen. Manea schwang sein Gipsbein elegant vom Sofa, um mir Platz zu machen.
    »Was ist mit Ihrem Bein?«
    »Tja, dummes Pech, könnte man sagen. Ich bin im Ministerium auf der Treppe gestürzt, als ich zu einer Krisensitzung mit dem Genossen wollte. Leider musste ich alle Termine bis auf weiteres absagen.« Er stöhnte so gespielt schmerzhaft, dass der Laut ebenso gut in Anführungsstrichen hätte stehen können. »Möchten Sie einen Drink?
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