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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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gegenwärtig eingeprägt.
    Die hinter den Männern hängende rumänische Flagge hat ein Loch in der Mitte. Als Sitzungszimmer dient ein Raum in der Parteizentrale, der trotz seiner Größe vollkommen verraucht ist. Alle reden durcheinander und blättern in Unterlagen, die meisten davon blanko. Ein Mann, am rechteckigen Tisch in der Mitte sitzend, erhält Faxe und Telegramme, überfliegt sie und diktiert die Antworten Oleanu, der mit Diktaphon, Papier und Stift hinter ihm steht. Der am Tisch sitzende Mann ist genauso angezogen wie neulich, als ich ihn im Capsia sah – Ilinescu, früher Parteichef, doch seit kurzem prominenter Dissident und unangefochtener Führer der NRF. Dicht neben ihm sitzt Manea Constantin, Innenminister und neuerdings auch Informationsminister. Jeder, der weiß, wie elegant er sich sonst kleidet, muss ahnen, dass er bewusst nachlässig auftritt. Er hat sogar einen Dreitagebart, wirkt wie jemand, der nächtelang auf den Barrikaden war, obwohl es sich bei seiner »Barrikade« um ein Zimmer mit türkischem Schlafsofa, Satellitenfernsehen und Bar handelte und seine Waffen Telefone, Faxgeräte und ein heißgelaufener Reißwolf waren. Manea nimmt als einziger Minister mit zwei Aufgabenbereichen an dieser inoffiziellen ersten Kabinettssitzung der Post-Ceaușescu-Regierung teil. Von seinem Gips keine Spur.
    Die übrigen Männer ähneln jenen, die sie ersetzt haben. Meist sind es sogar dieselben. Dann erblicke ich ihn. Der Griff seines Gehstocks kommt kurz ins Bild, dann schwenkt die Kamera quer durch den Raum, schließlich wieder zurück zu ihm. Trofim, zur Linken des neuen Premierministers sitzend, sieht offenbar keinen Anlass, bei seiner Kleidung tiefzustapeln; er trägt sogar noch das Parteiabzeichen. Wenn er das Wort ergreift, hören alle aufmerksam zu. Seine Miene, konzentriert, eindringlich, vollkommen unpersönlich, ist mir neu. Trofim wirkt wie verwandelt. Er hat zwar nicht den Vorsitz, besitzt jedoch große Autorität, hat es nicht nötig, die Führung zu übernehmen, denn alle fragen ihn um Rat, bitten ihn um seine Meinung, legen ihm die neuen Dekrete vor – allein achtzehn während der ersten Stunde der Amtszeit dieser Regierung. Trofim hat wieder zu sich selbst gefunden.
    Der Sprecher der Nationalen Rettungsfront erklärt, dass man Ceaușescu nach dessen Flucht im Hubschrauber gefasst habe und vor Gericht stellen werde. Rundfunk- und Fernsehsender sowie das Scînteia -Gebäude seien in der Hand der Vertreter des Volkes. Man wirft der Securitate, die Ceaușescu noch die Treue hält, die Fortsetzung der Kämpfe vor, behauptet, die Armee sei von Anfang an auf der Seite des Volkes gewesen. Das ist vielleicht nicht die erste Lüge der neuen Regierung, aber ganz sicher die erste, die ich erkennen kann.
    Ich höre ein herzhaftes, aus dem Bauch kommendes Lachen, in dem Zynismus und bittere Heiterkeit mitschwingen. Ich selbst bin es, der da lacht, und im nächsten Moment erfüllen mich Wut, Selbstironie und ein Gefühl des Absurden. Dann folgen Tränen. Sie brennen auf meinen Wangen, vermischen sich mit dem Geschmack von Zigaretten und Slibowitz auf meiner Zunge. Wie sagte Leo doch so schön: Ein neues Bordell, aber die alten Huren.
    Ich schlief angezogen und erwachte spät, ausgedörrt und Alkohol ausschwitzend. Phillimore hatte an der Rezeption eine Nachricht für mich hinterlassen, eine Einladung zum Weihnachtsessen. Drinks ab elf Uhr , hieß es darin, und die genannte Adresse war laut des Hotelangestellten nur zwei Blocks entfernt. Er zeigte mir den Weg auf meinem JAT-Touristenstadtplan.
    Phillimore öffnete die Tür, zwei Becher Glühwein in der Hand und eine Krone aus Seidenkrepp keck auf dem Kopf. »Fröhliche Weihnachten.« In seinem Wohnzimmer hingen Porträts illustrer Vorfahren, Geschwaderkommandanten und Admirale mit Namen wie Fortescue oder Phillimore-Mannering, die über ihren jüngsten und, der wüsten Junggesellenbude nach zu urteilen, letzten direkten Nachkommen wachten. Der einzige Weihnachtsschmuck, den Phillimore duldete, war eine einsame, an einem Gummibaum hängende Christbaumkugel.
    Bratenduft drang aus der winzigen Küche. Eine kleine Frau mit Kopftuch träufelte Fett auf den Gänsebraten, entkorkte Weinflaschen. Im Wohnzimmer liefen die vertrauten Bilder bei Euro-News, nur dass die Ceaușescus jetzt in Haft waren und entsetzt in die Kamera starrten, mit zerzausten Haaren und zerknitterten Gesichtern.
    »Verzeihung. Sie haben sicher genug davon«, sagte Phillimore, stellte
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