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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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schneidenden Wind die Seite zukehrt. Während ich esse und Wein trinke, schildert Leo eine Welt des Misstrauens und der Intrigen, in der er glücklich ist, die ihn anregt, erfüllt. Er passt hierher. Nicht weil ihm das Land ähnelt, sondern weil er es so weit übertrifft.
    Doch vor allem liebt er es. »Hier gibt es alles, Leidenschaft, Nähe, Zusammenhalt. Man muss sich den Umständen nur anpassen«, sagt Leo. »Um ehrlich zu sein, hat es etwas von einer Grauzone. Oder noch ehrlicher: Es ist eine flächendeckende Grauzone.« Er weist mit großer Geste auf die Welt außerhalb des Capsia, als würde diese in einer Wechselbeziehung zu dem moralischen Universum stehen, das wir bewohnen. Dann bestellt er mit einem Wink eine dritte Flasche Pinot Noir. Ich frage mich, ob es in Rumänien Aspirin gibt. Himmel, denke ich, was für ein Auftakt.
    Aber Leo hat recht. Er ist nicht wie die anderen Ausländer, die ein tiefes Misstrauen gegen ihre rumänischen Kollegen hegen, die Stimme senken, wenn diese den Raum betreten, oder nur widerwillig und abweisend mit ihnen verkehren. Er dagegen hat sich sich trotz seiner Neigung zu Prahlerei und Ausschweifung an die Einheimischen und ihre außergewöhnlichen Lebensumstände gewöhnt, die den Alltag so gewaltsam prägen.
    All das ist eng mit Leos ganz spezieller Verachtung verbunden. Diese gilt nicht nur den Parteibonzen, die ihr Volk auf eine so korrupte, unfähige und verächtliche Art regieren, sondern auch den Ausländern: den Diplomaten, Geschäftsleuten und Unternehmern, die im Westen der Stadt ihr eigenes Viertel samt eines englischen Pubs, The Ship and Castle (»The Shit and Hassle«), und eines Botschaftsladens bewohnen. Leo hat die fixe Idee, Designerparfüms für sie zu kreieren: »Essenz von Broadstairs«, »Bromley Man« oder »Stevenage: Für die Frau«. Die Feiern dieser Leute, eine endlose Folge von Cocktailpartys und Besäufnissen, sind »manchmal amüsant, und sei es nur, weil man einen Drink abstauben oder einen Blick in die britischen Zeitungen von letzter Woche werfen kann«, aber alles in allem ist dieser Reigen, wie er sich ausdrückt, ein Doppelgangbang , bei dem sich die immer gleichen, gelangweilten Leute in wechselnden Konstellationen ficken.
    An jenem Abend im Capsia erfüllten mich zwei einander widersprechende Gefühle. Beide waren Extreme meiner Persönlichkeit. Erstens das Gefühl, dass sich die Welt um mich zusammenschloss und fast klaustrophobisch verengte; zweitens eine Euphorie oder besser: das Gefühl einer Fülle von Möglichkeiten, einer Weite, die sich ringsumher auftat, während ich den menschenleeren Platz betrachtete. Es schien, als würden sich sowohl die Platzangst, die einem diese neue Architektur gezielt einzuflößen versuchte, als auch das politische System, das durch diese Stadt gleichsam in Beton gegossen werden sollte, auf mein Inneres übertragen, wo sie sich in eine Welt voller Intensität verwandelten. So wie man ein Atom spaltet, um die schrankenlose Fülle der darin eingeschlossenen Energien freizusetzen, schien mein Leben inmitten dieses Zwangs und all der Beschränkungen plötzlich eine Vielzahl von Möglichkeiten zu bieten.
    Das erste, was ich lernte, und zwar von Leo, bestand darin, die Menschen und ihre Taten voneinander zu trennen. Sie bewegten sich in einer Welt, die mit ihren Taten nichts zu tun hatte; nur so konnten sie in einem Polizeistaat Freundschaften aufrechterhalten. Wenn Rodica, die Sekretärin der Fakultät, unsere Büros öffnete, damit die Polizei sie durchsuchen und Unterlagen kopieren konnte, oder wenn meine Vermieterin der Polizei Einlass in meine Wohnung gewährte, schwieg ich. Ich wusste, dass sie wussten, dass ich es wusste, und hätte ich etwas dazu gesagt, so hätte das nichts geändert.
    Trotz der Brutalität und der grotesken Zustände waren unsere Beziehungen von Normalität geprägt; von der menschlichen Gabe, sich den Umständen anzupassen, und nicht von der Korruption und der Doppelzüngigkeit, die diesen zugrunde lagen. Dies war auch unsere wichtigste Verteidigung – Sorge, Mangel und Unterdrückung in Routine zu verwandeln, bis man nichts mehr davon merkte, bis man sogar das Grässlichste nicht mehr wahrnahm.
    »Eines solltest du wissen …« Leo erzählt mir etwas – eines der wenigen Details über Bukarest, die mir schon bekannt sind: dass diese Stadt weltweit die größte Zahl von Kinos pro Kopf hat.
    Leo meint, dass ich für diesen Abend genug habe. Das Capsia schließt – es geht auf
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