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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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gelesen und im kollektiven Gedächtnis archiviert wird. Und dieser Bau glich in meinen Augen Kafkas Schloss.
    Nach einer Stunde erschien ein blinzelnder, nach Keller riechender Mann. Ich füllte die Formulare aus und ließ nur die Spalte »Nächste Angehörige« frei. Ich hatte mich darauf gefreut, sie frei zu lassen. »Keine Nächsten«, sagte ich, »keine Angehörigen«, aber er bestand darauf, dass ich etwas eintrug. In diesem Land durfte keine Spalte leer bleiben. Ich entschied mich für Leos Namen.
    Mein Foto wurde auf ein Kärtchen geklebt und gestempelt. Das war mein Pass für die Bukarester Diplomatenläden, die speziellen Tankstellen, die Clubs für Ausländer.
    Draußen trieb Staub von der Baustelle auf der anderen Seite des Boulevards herüber. Dort arbeiteten Männer, die weder Helm noch Hemd, sondern nur Sporthosen und Schlappen trugen. Neben schwarzen Einsatzfahrzeugen mit vergitterten Fenstern saßen Soldaten auf der Bordsteinkante, das Gewehr quer auf den Knien, und rauchten.
    Alle zwanzig Meter stand Miliz. Während der letzten Nacht hatten die Männer unheimlich und gespenstisch gewirkt, wie ruhelose Schatten, die eine verschwundene Bevölkerung bewachten. Nun standen sie schwankend in der Hitze, schlampig gekleidet und gelangweilt, weniger wie Posten, sondern eher wie die leibhaftige Mahnung an eine höhere Wachsamkeit. Unterwegs wurde mir bewusst, was fehlte. Aus den Häusern und Läden drang keine Musik; kein Radio lief, niemand pfiff oder sang; man konnte nirgendwo auf einen Kaffee oder eine Kleinigkeit einkehren. Es gab keine plaudernden Passanten, und wenn jemand vorbeikam, dann allein. Die Schulhöfe waren totenstill. Ein Zeitungskiosk hatte ein bräunliches Getränk namens »Rocola« im Angebot – rumänische Cola –, Zigaretten und grau-grüne Stapel von Lotterielosen. Schwer zu sagen, wie hoch die Preise waren.
    Kurz hinter meiner Wohnung bemerkte ich eine Menge. Als ich sie erreichte, erblickte ich ein Gebäude, so nichtssagend, dass ich es noch nie bemerkt hatte, obwohl ich schon dreimal daran vorbeigelaufen war. Wie im Capsia konnte man auch hier nicht durch die Fenster schauen. Nach einer Weile begriff ich, dass es sich um ein Parteigebäude handelte: Es war jene unscheinbare, aber hochmoderne Klinik, in der die Parteioberen und ihre Familien alles vornehmen ließen, von Abtreibungen über Herzoperationen bis zur Chemotherapie. Mächtige Eisentore bildeten den Eingang, eine Marmortreppe führte zu einem Portikus mit Glasdach hinauf. Das Gebäude wirkte elegant, aber schlicht. Draußen standen parteieigene Krankenwagen, weiße Mercedes-Kombis mit roten Streifen und rotierenden Blaulichtern.
    Arbeiter in Blaumännern übertünchten vor der Mauer einen Schriftzug, bewacht von jungen Männern im Anzug. Es war ein ungleicher Kampf, denn die dünne Emulsionsfarbe war machtlos gegen die knallroten Lettern. EPID – EMIA. Das Wort wurde von einem schwarzen Tor geteilt, über dessen Gitterstäbe ein langer, blutiger Trennstrich gemalt worden war. Die Tropfen und Schlieren der roten Lackfarbe erinnerten an einen billigen Horrorfilm; an diesem grauen Ort wirkte das Rot gespenstisch, beinahe brutal. Passanten eilten mit gesenktem Blick daran vorüber.
    Während der nächsten Monate sollte ich dieses Graffiti mit schöner Regelmäßigkeit entdecken. Wenn es nicht mehr da war, meinte ich, die ans Licht drängenden Lettern unter der dünnen Farbschicht erkennen zu können, aber vielleicht spielte mir meine Einbildung einen Streich. Das Wort umgab mich von allen Seiten, allerdings in leibhaftiger Gestalt: in den ausgemergelten Gesichtern der Armen und Kranken, all der Lumpensammler auf dem Müllhaufen der rumänischen Gesellschaft. Einige Tage später, an einem Freitagabend, als ich gerade von der Arbeit zurückkehrte, erblickte ich eine junge Roma, zu Tode erschöpft und offenbar in ihren letzten Zügen. Sie trug bunte Kleider und eine Bernsteinkette und streckte bettelnd einen Arm aus, den Daumen auf der Handfläche angewinkelt. Dieses winzige Detail brannte sich mir ein, es kam mir vor wie ein Symbol für Elend und Hoffnungslosigkeit. Aus der Straßenbahn beobachtete ich, wie sich zwei Soldaten über die auf dem Bürgersteig hockende Frau beugten, ihr Urin lief zwischen den Beinen bis in die Gosse. Die Männer streiften weiße Gummihandschuhe über und luden sie auf einen Dacia-Pick-up. Ihre geisterhafte Silhouette blieb da, als wäre sie mit jenem Schweiß auf die Wand gemalt worden, den ihr
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