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Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)

Titel: Die Abschaffung des Zufalls: Roman (German Edition)
Autoren: Patrick McGuinness
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verdorrender, am Ende nur noch aus Knochen und Luft bestehender Körper ausgedünstet hatte.
    EPIDEMIA: Dieses Wort stand in den Augen der hageren und wilden jungen Männer, die sich am Rand des Marktes herumtrieben, auf dem es so wenig zu kaufen gab, dass die meisten Stände schon um acht Uhr früh schlossen. Waren, die ich immer verpackt gekauft hatte und nur in großen Mengen kannte, waren hier ausgestellt wie Juwelen: verschrumpelte, an alte Socken erinnernde grüne Paprikas, krumme Möhren, ein paar Salatköpfe. Das Einzige, was es in rauhen Mengen zu geben schien, war Eingelegtes: Gemüse und Rüben, die in ihren Gläsern wie Gehirne, Organe oder Blinddärme in Formaldehyd aussahen und nur auf jenen Stromstoß zu warten schienen, der sie wieder zum Leben erweckte, zu einem funktionierenden Körper verband. Aber welcher Art von Energie bedurfte es, um diese an niedergedrückte, gebrochene Strohpuppen erinnernden Menschen in Revolutionäre zu verwandeln?
    Wieso ahnte ich nicht – ahnte niemand von uns –, was da auf uns zukam? Weil es vollkommen unrealistisch zu sein schien, bis es urplötzlich doch Realität wurde? Vielleicht. Leo schien allerdings eine Vorahnung gehabt zu haben. »Man muss dicht dranbleiben oder so rasch wie möglich abhauen«, hatte er mit hochgezogenen Augenbrauen gesagt und dabei auf etwas hinter oder neben einem gezeigt. »Welche Wahl werden wir treffen?«

DREI
    In einer fremden Umgebung nimmt man alles Mögliche wahr, nur nicht das, was zählt. Sogar die Luft ist angespannt, jedes noch so kleine Detail mit Bedeutung aufgeladen: Der Geruch der Flure, eine Mischung aus Tabakqualm, Fußbodenpolitur und Schweiß, die durch schlechte Belüftung ihre besondere Note erhält; die dick aufgetragene, graue Eierschalenfarbe der Wände; der rötliche Linoleumfußboden, rissig und lädiert und nicht mehr zu reparieren; die Anschlagtafeln aus Kork, an denen Papierfetzen an Stecknadeln und Heftklammern hängen; abgerissene Ecken von Plakaten; veraltete, im Wind flatternde Bekanntmachungen … All das scheint mir in seiner Alltäglichkeit und Zusammenhanglosigkeit wirklicher ( noch wirklicher?) als das zu sein, was später geschah: Die Morde und der Mob, die Schießereien und die Anarchie. Was wohl daran liegt, dass diese Details in meiner Vorstellung das Gewicht dessen tragen, was danach geschah – als wären alle Schrecken und Auswüchse immer schon latent vorhanden gewesen, nur einen Gedanken, eine falsche Denkbewegung entfernt.
    An meinem ersten Arbeitstag führte mich ein alter Portier zu meinem Büro in der Universität. Ein Plastikschild wies ihn als Micu aus. Er trug eine graue Hose und eine blaue, von Orden und Schnüren übersäte Tunika. Seine Brust glich einer Wand voller Auszeichnungen, die in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zu seinem Status stand – auf jeden Fall zum jetzigen. Schwer zu sagen, ob er sich als Soldat oder Fabrikarbeiter ausgezeichnet oder nur ein gewisses Alter erreicht hatte, was in Rumänien an sich schon eine Leistung war. Sollte die durchschnittliche Lebenserwartung weiter so rasant sinken wie in den letzten zehn Jahren, hatte Micu sämtliche Orden mehr als verdient, denn er war mindestens achtzig. Die Regierung verteilte so viele Orden und Ehrenurkunden – für heldenhafte Mütter (jene mit fünf oder mehr Kindern), heldenhafte Arbeiter (jene, die an drei von vier Sonntagen arbeiteten) oder heldenhafte Ackerbauern –, dass eigentlich nur jene Menschen auffielen, die nichts dergleichen vorzuweisen hatten.
    Trotz seines Humpelns, das den Eindruck erweckte, als würde er regelmäßigen, aber unsichtbaren Hindernissen ausweichen, ging Micu mit schnellen Schritten. Auf seiner Unterlippe hing eine feuchte, filterlose Zigarette, angeklebt mit Speichel und Teer. Seine Augen waren wässerig, aber wachsam. Als er mir den Schlüssel gab, zeigte er auf Belangers Namensschild an der Tür und deutete mit einer Geste an, dass es in Kürze abgeschraubt werden solle. Das Schild kam seiner Entfernung und Auswechselung niemals näher als in diesem Moment.
    Eine alte Schreibmaschine stand auf dem Tisch. Verblichene Plakate, für Studienreisen werbend, die kein Student jemals antreten würde, waren mit verschrumpelten Klebestreifen an der Wand befestigt worden, dazu Bilder der obligatorischen Ikonen der britischen Literatur, Shakespeare, Dylan Thomas, Virginia Woolf. Auf dem Telefonhörer klebte ein gelber Zettel mit einigen Nummern, allesamt örtlich, aber ohne die
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