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Diagnose zur Daemmerung

Diagnose zur Daemmerung

Titel: Diagnose zur Daemmerung
Autoren: Cassie Alexander
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Zumindest in der Art, wie es auch den Osterhasen und die Zahnfee gab. Sie hatte große Ähnlichkeit mit der Jungfrau Maria, allerdings verbarg sich unter ihren weiten Gewändern ein Skelett, so richtig mit Knochenhänden und blankem Schädel. Jeder konnte zu ihr beten, und offenbar gab es massenhaft Menschen, die sich von der katholischen Kirche im Stich gelassen fühlten und sich ihr zuwandten. Sie war der Schutzpatron der Gefängnisinsassen, Waffenschmuggler, Drogendealer, Auftragsmörder, Kidnapper – eine Heilige für all die Menschen, die davon ausgehen mussten, dass Gott ihre Lebensweise nicht billigen würde, die aber trotzdem das Bedürfnis verspürten, zu jemandem zu beten.
    Wenn sie es war, bei der die Entrechteten um Hilfe flehten, dann war sie genau meine Art von Gottheit. »Falls du nicht zu viel damit zu tun hast, irgendwelchen Mördern zu helfen, dann setz doch deinen faulen Heiligenarsch in Bewegung und heile meine Mom«, befahl ich dem Computerbildschirm, während ich die nächste Seite anklickte.
    Santa Muerte schien als Konzept ganz interessant zu sein, aber eine echte Hilfe war meine Recherche nicht. Immerhin würden die Schatten wohl kaum irgendein nebulöses Glaubenskonzept jagen. Sie hatten sie als entflohene Gefangene bezeichnet, was implizierte, dass es sich um eine richtige Person handeln musste, wahrscheinlich um jemanden, der einfach nur diesen Namen toll fand. Heiliger Tod, das klang majestätisch und düster, ganz egal in welcher Sprache.
    Wenn man sich von der abstrakten Idee verabschiedete, blieben tausend Möglichkeiten, was sie sonst noch sein könnte; falls es sich überhaupt um eine »sie« handelte. Ich schnaubte frustriert. Santa Muerte konnte praktisch alles sein: ein Mensch, der den Schatten in die Falle gegangen war, ein uralter Vampir oder irgendeine unbekannte Art von Formwandler. Sogar ein mythologisches Tier. Inzwischen wusste ich ja, was für seltsame Dinge es auf dieser Welt gab, von denen ich vor einem Jahr noch nicht einmal etwas geahnt hatte. Santa Muerte war da nur der letzte gruselige Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.
    Ich klappte den Laptop zu und rollte mich auf der Couch zusammen, während Minnie sich an mich kuschelte. Offenbar war ich kurz eingeschlafen, denn das Nächste, was ich bewusst wahrnahm, war das Klingeln meines Handys.
    »Hallo?«, murmelte ich. Möglicherweise war ja jemand dran, der mir helfen konnte.
    Doch stattdessen hörte ich die pikierte Stimme der Rezeptionistin von der Schlafklinik. »Ich gehe nicht davon aus, dass Sie heute noch zur Arbeit erscheinen, oder?«
    »Nein«, antwortete ich und legte auf.
    Danach konnte ich natürlich nicht wieder einschlafen. Ich weigerte mich, zu glauben, dass meine Mutter Krebs hatte. Ein paar Monate. Nicht einmal ein Jahr. Nächstes Jahr um diese Zeit … hätte ich keine Mutter mehr.
    Diese Vorstellung war einfach zu schrecklich. Ich versuchte, mich irgendwie abzulenken, denn mein Selbstmitleid würde ihr auch nicht helfen. Ich griff wahllos nach einem Buch und las, ohne die Buchstaben zu entziffern. Ich versuchte, mir eine Comedyserie anzusehen, aber die aufgedrehte Art der Darsteller schien meine momentane Situation zu verhöhnen.
    Während ich ziellos durch die Wohnung lief, wünschte ich mir, es gäbe jemanden, mit dem ich reden konnte. Es war nie meine Absicht gewesen, als Einzelgänger zu enden, aber so war es nun einmal. Mein Freund, der Zombie, hatte vor Monaten die Stadt verlassen, und seit der Ächtung konnte ich mich auch nicht mehr mit dem Werwolf treffen, mit dem ich einmal ein Date – okay, einen One-Night-Stand – gehabt hatte. Für Asher galt dasselbe. Trotzdem hätte ich ihn gerne noch mal angerufen, aber ständig irgendwelche Nachrichten auf seine Mailbox zu quatschen, wäre doch zu erbärmlich.
    Ich war einfach nicht gut darin, die Leute auf dem Radar zu behalten. Dabei entging mir keineswegs, dass mich ebenfalls niemand auf dem Radar behielt. Mir war es nie so richtig gelungen, Kontakt zur normalen Welt herzustellen, oder auch nur zu mir selbst: Ich war immer nur von einer Krise in die nächste gestolpert und hatte versucht, alles wieder hinzubiegen. Die Scheidung meiner Eltern, das Suchtproblem meines Bruders, meine Patienten bei der Arbeit – offenbar musste ich in meinem letzten Leben wohl ein echtes Arschloch gewesen sein angesichts der Strafen, mit denen ich es diesmal zu tun hatte. Indem ich anderen half, konnte ich mein Selbstwertgefühl wenigstens deutlich
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