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Dessen, S

Dessen, S

Titel: Dessen, S
Autoren: Because of you
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Irren – und hatte urplötzlich dasselbe Gefühl wie an dem Tag, als meine Mutter die Trennung verkündete. Als würde ich überhaupt nicht hierhergehören, sondern nach Hause in mein Bett, tief und fest schlummernd, wie meine Klassenkameraden, die ich in wenigen Stunden in der Schule wiedersehen würde. Doch dieser eigenartige Moment verflüchtigte sich in der Regel schnell und alles um mich her wurde wieder ganz normal. Wenn dann Julie auf einer ihrer Runden mit derKaffeekanne vorbeikam, schob ich meinen Becher an den Tischrand und machte wortlos klar, was wir ohnehin beide längst wussten – dass ich nämlich noch eine Weile bleiben würde.
    ***
    Meine Stiefschwester, Thisbe Caroline West, wurde am Tag vor meiner Highschool-Abschlussfeier geboren. Sie wog exakt 3173   Gramm. Als mein Vater am nächsten Morgen anrief, klang er total erschöpft.
    »Es tut mir wirklich sehr leid, Auden«, sagte er. »Ich bin todunglücklich, dass ich deine große Rede nicht miterleben werde.«
    »Schon okay«, antwortete ich, während meine Mutter im Morgenmantel in die Küche kam und zielstrebig auf die Kaffeemaschine zusteuerte. »Wie geht es Heidi?«
    »Gut«, erwiderte er. »Müde. Das Ganze hat ewig gedauert, war sehr mühsam, und am Ende wurde sie doch per Kaiserschnitt entbunden. Was ihr gar nicht gepasst hat. Aber ich bin sicher, sie muss sich nur ein wenig ausruhen, dann geht es ihr bald wieder besser.«
    »Grüß sie von mir und herzlichen Glückwunsch«, meinte ich.
    »Mach ich. Und du, mein Schatz, gehst später da raus und heizt ihnen ordentlich ein, versprochen?« Typisch Dad: er war berühmt-berüchtigt für seine Streitlust, und alles, was mit Uni und Wissenschaft, Forschung und Lehre zu tun hatte, betrachtete er automatisch als Schlachtfeld. »Ich denke an dich.«
    Ich lächelte, bedankte mich, legte auf. Meine Muttergoss gerade Milch in ihren Kaffee und rührte einen Augenblick stumm in ihrem Becher, sodass der Löffel leise den Rand entlangklirrte, bevor sie sagte: »Lass mich raten – er kommt nicht.«
    »Heidi hat gestern ihr Kind gekriegt«, antwortete ich. »Sie haben sie Thisbe genannt.«
    Meine Mutter schnaubte verächtlich. »Du liebe Zeit«, meinte sie. »Es gibt bei Shakespeare so viele Namen zur Auswahl und dein Vater entscheidet sich ausgerechnet für diesen? Das arme Mädchen. Ihr ganzes Leben lang wird sie erklären müssen, warum sie so heißt.«
    Ausgerechnet. Meine Mutter hatte eigentlich überhaupt kein Recht zu meckern. Schließlich hatte sie meinem Vater erlaubt, die Namen für meinen Bruder und mich auszusuchen: Detram Hollis war ein Professor, den mein Vater bewunderte, ja verehrte, und W.   H.   Auden sein Lieblingsdichter. Als Kind hatte ich mir eine Zeit lang gewünscht, ich hieße Ashley oder Katherine, was mein Leben deutlich vereinfacht hätte. Doch meine Mutter betonte gern, mein Name sei so etwas wie ein literarischer Lackmustest. Auden sei nicht Frost, pflegte sie zu sagen, oder Whitman, sondern etwas unbekannter. Und wenn jemand tatsächlich von ihm gehört hätte, könnte ich zumindest bis zu einem gewissen Grad sicher sein, dass dieser Jemand in derselben Intelligenzliga spielte wie ich. Ich fand, für Thisbe galt das sogar noch viel mehr, verkniff mir jedoch jeglichen Kommentar und sah stattdessen nochmal die Karteikarten mit meinen Redenotizen durch. Im nächsten Moment zog sie einen Stuhl heran und setzte sich zu mir.
    »Ich nehme an, Heidi hat die Geburt überlebt?« Sie trank einen Schluck Kaffee.
    »Sie hatte einen Kaiserschnitt.«
    »Die Glückliche«, sagte meine Mutter. »Hollis wog über fünf Kilo und die PDA hat nicht gewirkt. Er hat mich beinahe umgebracht.«
    Ich fächerte die Karteikarten auf, ging sie eine nach der anderen zum x-ten Mal durch und machte mich innerlich auf eine der Geschichten gefasst, die bei diesem Thema unweigerlich folgen würden. Zum Beispiel, was für ein gieriges Kind Hollis gewesen war – er hatte die Brüste meiner Mutter buchstäblich leer getrunken. Oder seine berühmten Koliken, die schlimmer waren als bei jedem anderen Baby, sodass man endlos mit ihm auf dem Arm durch die Gegend marschieren musste; und selbst dann schrie er ununterbrochen. Oder es gab die Anekdote über meinen Vater, wie er einmal   …
    »Hoffentlich erwartet sie jetzt nicht, dass dein Vater ihr groß hilft.« Sie streckte die Hand aus, nahm sich ein paar meiner Karteikarten, blätterte sie mit kritischem Blick durch. »Ich konnte mich schon glücklich schätzen,
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