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Dessen, S

Dessen, S

Titel: Dessen, S
Autoren: Because of you
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damals an der Uni, an der inzwischen meine Mutter unterrichtet, eine Stelle als Dozent angeboten. Gleichzeitig war es ihm gelungen, einen Verlag für seinen ersten Roman – »Das Horn des Narwals« – zu finden. Meine Mutter war schwanger (mit meinem Bruder) und versuchte parallel dazu, ihre Dissertation fertigzustellen.
    Vier Jahre später: Ich wurde geboren, mein Vater schwamm auf einer Erfolgswelle, sowohl was seinen Ruf bei den Kritikern als auch seine finanzielle Situation betraf. Sein Buch stand auf der Bestsellerliste der
New York Times
, er war für mehrere wichtige Literaturpreise nominiert sowie Leiter des Fachbereichs für Kreatives Schreiben an einer renommierten Uni.
    Meine Mutter hingegen schwamm »in einem tiefen Meer aus Windeln und Selbstzweifeln«, wie sie gern zu sagen pflegte. Doch als ich in den Kindergarten kam, stürzte sie sich voller Eifer – und auf Anhieb erfolgreich – wieder ins akademische Leben: Ihre Doktorarbeit wurde veröffentlicht, sie ergatterte eine Gastprofessur, erfreute sich im Lauf der Zeit immer größerer Beliebtheit unter den Studenten, aus der Gast- wurde eine ordentliche Professur; gleichzeitig war sie äußerst produktiv, auf das erste folgten ein zweites, ein drittes wissenschaftliches Buch – und mein Vater hatte plötzlich das Nachsehen.Er behauptete zwar, er sei stolz auf sie, machte Witze darüber, dass sie jetzt die Brötchen verdiente   … Doch dann wurde meine Mutter auf den eigens für sie gestifteten Lehrstuhl berufen (eine sehr prestigeträchtige Position), während der Verleger meines Vaters ihn aus heiterem Himmel fallen ließ (weniger prestigeträchtig). Und damit ging der Ärger los.
    Die Auseinandersetzungen fingen immer beim Abendessen an. Einer von beiden machte eine Bemerkung, die der andere prompt in den falschen Hals bekam. Anschließend folgte unweigerlich ein kurzer Streit – scharfe, verletzende Worte, ein hingeknallter Topfdeckel   –, danach schien die Sache irgendwie geklärt   … zumindest bis zehn, elf Uhr. Denn dann hörte ich plötzlich, wie sie wieder auf demselben Thema rumzureiten begannen.
    Nach einer Weile begriff ich die Hintergründe dieses Zeitsprungs: Sie warteten nur, bis ich eingeschlafen war, ehe sie richtig loslegten. Deshalb beschloss ich eines Abends, genau das nicht zu tun. Ich ließ meine Zimmertür offen, mein Licht an, ging immer wieder ins Bad, wobei ich soviel Krach wie möglich machte, während ich mir die Hände wusch oder Ähnliches. Eine Zeit lang funktionierte das auch – es blieb ruhig. Bis es eben nicht mehr funktionierte. Und das Gezeter erneut losging. Doch zu dem Zeitpunkt hatte sich mein Körper bereits daran gewöhnt, spätabends noch wach zu sein. Was wiederum bedeutete, dass ich nun jedes einzelne Wort mitkriegte.
    Ich kannte jede Menge Leute, deren Eltern sich getrennt hatten. Jeder schien anders darauf zu reagieren: totale Verblüffung, Superfrust und Enttäuschung, absoluteErleichterung. Nur eins war bei allen gleich: Es gab endlose Gespräche über diese Gefühle. Meine Familie hingegen musste natürlich mal wieder die Ausnahme bilden. Okay, den Setz-dich-bitte-wir-müssen-etwas-mit-dir-besprechen-Moment gab es auch bei uns. Meine Mutter überbrachte die Nachricht. Sie saß mir gegenüber am Küchentisch, während mein Vater an der Arbeitsplatte lehnte, an seinem Pullover zupfte und sehr erschöpft wirkte.
    »Dein Vater und ich werden uns trennen«, sagte sie in demselben trockenen Ton, den sie anschlug, wenn sie die Referate ihrer Studenten auseinanderpflückte. »Es ist das Beste für uns alle, das siehst du doch bestimmt ähnlich.«
    Ich wusste nicht, was ich sehen – oder denken oder fühlen – sollte, als ich das hörte. Erleichterung? Nein. Superfrust und Enttäuschung? Ebenfalls Fehlanzeige. Und schon gar kein Schock, wie gesagt. Was mir am ehesten auffiel, als wir drei da so in der Küche standen beziehungsweise saßen, war, wie winzig ich mir plötzlich vorkam. Wie ein kleines Kind. Was total seltsam war. Als ob durch ihre Trennung eine längst überfällige Welle der Kindheit über mich hinwegbrandete.
    Natürlich war ich ein Kind gewesen. Doch als ich auf die Welt kam, waren meine Eltern durch meinen Bruder schon komplett ausgepowert – kein Baby hatte je mehr Koliken gehabt als er, kein Krabbelkind war so hyperaktiv gewesen, kein kleiner Junge so lebhaft (im Klartext: unerträglich). Und er powerte sie immer noch aus, indem er quer durch Europa tingelte und gelegentlich
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