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Dessen, S

Dessen, S

Titel: Dessen, S
Autoren: Because of you
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üblich hatte sich ein Trupp männlicher Magistranden und Doktoranden um sie versammelt und hing bewundernd an ihren Lippen, während sie – soweit ich es den Wortfetzen entnehmen konnte, die zu mir herübersegelten – über Marlowe und die Kultur der Weiblichkeit dozierte.
    Meine Mutter war schon immer auf faszinierende Weise widersprüchlich und die Szene in der Küche war ein weiterer Beleg dafür. Mit Frauen in der Literatur kannte sie sich super aus, doch im wirklichen Leben mochte sie ihre Geschlechtsgenossinnen nicht sonderlich. Was sicher zumindest zum Teil daran lag, dass die meisten neidisch auf sie waren: auf ihre Intelligenz (sie hätte problemlos Mitglied bei Mensa werden können), ihre wissenschaftliche Karriere (vier Bücher, unzählige Artikel, ein Stiftungslehrstuhl), ihr Aussehen (groß, die richtigen Kurven an den richtigen Stellen, langes tiefschwarzes Haar, das sie meist offen trug, sodass es richtig wild aussah – das einzig Unkontrollierte an ihr). Aus diesen und ähnlichen Gründen tauchten Student
innen
seltenbei diesen Zusammenkünften auf; und wenn, kamen sie noch seltener ein zweites Mal.
    »Dr.   West«, sagte gerade ein Student, der sorgfältig auf ungepflegt gestylt war: billig wirkendes Jackett, Zottelhaarschnitt, angesagte Spießerbrille mit schwarzem Rahmen. »Sie sollten unbedingt darüber nachdenken, einen Artikel über diese These zu veröffentlichen. Einfach faszinierend.«
    Meine Mutter trank einen Schluck Wein, strich sich mit der Hand schwungvoll die Haare aus dem Gesicht. »Meine Güte, nein«, antwortete sie mit ihrer tiefen, rauen Stimme (sie klang wie eine Raucherin, obwohl sie noch nie in ihrem Leben an einer Zigarette auch nur gezogen hatte). »Ich habe ja nicht mal genügend Zeit, das Manuskript für mein nächstes Buch fertig zu schreiben. Und dafür werde ich wenigstens bezahlt. Sofern man das Bezahlung nennen kann.«
    Mehr bewunderndes, schmeichelndes Gelächter. Meine Mutter beschwerte sich oft und gern darüber, wie niedrig das Honorar für ihre Bücher – bedeutende wissenschaftliche Werke, die bei diversen Universitätsverlagen erschienen – war, wohingegen mit »dümmlichen Hausfrauengeschichten« (ihre Worte) das große Geld gemacht wurde. Aber wäre es nach meiner Mutter gegangen, würde ohnehin jeder Mensch ausschließlich Shakespeares gesammelte Werke als Strandlektüre wählen, vielleicht noch ergänzt durch ein paar nette Heldenepen.
    »Trotzdem, es ist eine so brillante Idee«, fuhr Spießerbrille beharrlich fort. »Ich könnte Ihnen vielleicht behilflich sein, als   … äh   … Koautor, meine ich.«
    Unvermittelt wurde es still im Raum. Meine Mutter hob den Kopf und ihr Glas. Musterte ihn scharf. »Wirklich reizend von Ihnen«, erwiderte sie. »Aber ich arbeite niemals mit einem Koautor zusammen, und zwar aus demselben Grund, aus dem ich mich auch nicht auf Bürogemeinschaften oder Beziehungen einlasse: Ich bin viel zu egoistisch.«
    Sogar über die Entfernung hinweg konnte ich sehen, wie Spießerbrille schluckte, rot wurde und hastig nach der Weinflasche griff. Idiot, dachte ich, und schob die Tür wieder zu. Als wäre es tatsächlich so leicht, mal eben eine Verbindung zu meiner Mutter herzustellen   … (Und ich wusste, wovon ich sprach.)
    Zehn Minuten später schlüpfte ich, Schuhe unter den Arm geklemmt, durch die Hintertür. Stieg in mein Auto. Fuhr durch die fast menschenleeren Straßen, durch stille Wohngegenden, an dunklen Schaufenstern vorbei, bis in der Ferne die roten Lichter von
Ray's Diner
auftauchten.
Ray's
war klein, viel zu grell erleuchtet (überall Neon) und die Tische klebten immer ein bisschen. Aber es war das einzige Lokal in der ganzen Stadt, das vierundzwanzig Stunden geöffnet hatte, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr. Seit ich nicht mehr schlief, hatte ich mehr Nächte dort verbracht als in meinem Bett. Ich hockte an einem Tisch in der Ecke, las, lernte, bezahlte sofort, was auch immer ich bestellte, und gab pro Stunde einen Dollar Trinkgeld extra, bis die Sonne aufging.
    Das mit der Schlaflosigkeit hatte vor drei Jahren angefangen, während die Ehe meiner Eltern allmählich in die Brüche ging. Dass sie sich trennten, überraschte niemandengroß, am wenigsten mich selbst: Ihre Beziehung war schwierig und stürmisch gewesen, seit ich denken konnte; allerdings hatten sie sich eher wegen ihrer Arbeit gestritten als wegen einander.
    Als sie hierherzogen, hatten beide gerade ihr Studium beendet. Meinem Vater wurde
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