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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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als Komödiendichter ist jedenfalls, daß man alles aus dem Blickwinkel von Einzelpersonen sieht; wenn einem eine Absicht mißfällt, dann sucht man als Angriffsziel nach einem Menschen, einer angesehenen, prominenten Gestalt. Und dann greift man nicht deren Politik oder öffentliche Arbeit an – das ergäbe furchtbar langweilige Dichtung. Nein, man zieht über sie persönlich her, und besonders über ihr Geschlechtsleben, denn es scheint die allgemeine Ansicht zu herrschen, daß das erotische Treiben eines Mannes ein Musterbeispiel für seine sonstigen Aktivitäten sei. Nun traf es sich, daß der Mann hinter dem Sizilienprojekt im Bett alle möglichen komischen Dinge mit allen möglichen seltsamen Leuten trieb, und deshalb wurde ich von Tag zu Tag unwillkürlich mißtrauischer.
    Die ganze Angelegenheit war nämlich Alkibiades’ Idee gewesen. Die beste Alkibiades-Geschichte, die ich kenne, hat allerdings zufälligerweise nichts mit seinen sexuellen Betätigungen zu tun; wenn ich die Zeit dazu finde, werde ich Ihnen später darüber einige Geschichten erzählen. Nein, diese Geschichte entstand aus einem Witz über Perikles, und ich habe sie von Kratinos, darum dürfen Sie ruhig lachen, wenn Sie wollen.
    Als Alkibiades etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt war, war sein Liebhaber niemand geringerer als Perikles höchstpersönlich; und das Ganze spielte sich ungefähr zur Zeit der Euböa-Krise ab. Wie Sie sicherlich wissen, stand Perikles vor dem Problem, der Volksversammlung seine jährliche Kostenabrechnung als Heerführer vorzulegen – es gab da einen Posten mit einem wirklich schwindelerregenden Betrag, den Perikles den Athenern wohl kaum hätte erklären können, ohne mit einem Becher besten Schierlings zu enden. Zum fraglichen Zeitpunkt machte er sich furchtbare Sorgen darum und sprach selbst im Schlaf davon.
    Alkibiades hat jedenfalls immer gern seine vollen sechs Stunden geschlafen oder gern auch noch länger, und er empfand diese nächtlichen Ruhestörungen als ausgesprochen störend. Eines Nachts, als Perikles dalag und murmelte: »Ich muß einen Weg finden, meine Ausgaben zu begründen… Ich muß einen Weg finden, meine Ausgaben zu begründen…«, schüttelte Alkibiades ihn an den Schultern und weckte ihn auf.
    »Du betrachtest das aus einem völlig falschen Blickwinkel«, sagte er. »Was du finden mußt, ist ein Weg, deine Ausgaben nicht zu begründen.«
    Perikles entgegnete irgend etwas Denkwürdiges, wie: »Halt die Klappe und leg dich schlafen!«, doch als er am nächsten Morgen aufwachte, hatte er einen phantastischen Einfall. Er führte die gesamte Summe unter ›notwendige Auslagen‹ auf und beschwor eine schwerwiegende internationale Krise herauf, um die Aufmerksamkeit abzulenken. Auf diese Weise kam Perikles nicht nur mit dem Leben davon, sondern auch mit untadeligem Ruf, und er war in der Lage, uns durch den ersten Abschnitt des Kriegs zu führen.
    Diese Geschichte ist für Alkibiades typisch. Erstens weil er begriffen hat, daß ein unlösbares Problem nicht mit Gewalt zu lösen ist, sondern daß man es umgehen und die Finger davonlassen muß; zweitens weil er seinen glänzenden Verstand nicht zum Wohl der Stadt einsetzte, sondern so, daß er sein volles Pensum Schlaf bekam; drittens weil er mit dem führenden Mann seiner Zeit im Bett war. Ich gebe zu, daß ich Alkibiades nie gemocht habe, und der Grund, warum ich ihn nicht leiden kann, ist derselbe Grund, weshalb ihn alle anderen innig lieben: weil er der bestaussehende Mann in Athen ist. Ich neige zu Vorbehalten gegenüber gutaussehenden Menschen. Die Athener glauben, wie ich schon berichtet habe, daß die Schönen gut und nur die Guten schön sind.
    Alkibiades muß den Göttern gedankt haben, daß der einzige Mensch, der bereit war, sich ihm entgegenzustellen, Nikias war, Sohn des Nikeratos, weil selbst dessen bester Freund (wenn er überhaupt einen hatte) nicht behauptet hätte, Nikias sei ein schönes Geschöpf, insbesondere dann nicht, wenn er gerade Nierenbeschwerden hatte. Ich glaube, anfangs war Nikias genauso wie alle anderen für die Idee, doch dann entdeckte er in dem Projekt ein paar Widersprüche, wie ich sie bereits kurz umrissen habe, und empfand es als seine Pflicht, diese aufzuzeigen. Wenn Nikias sprach, hörten alle zu, obwohl man allgemein darin übereinstimmte, daß er der langweiligste und niederschmetterndste Redner Athens war. Ich nehme an, man hörte ihm in der Ansicht zu, daß etwas so gräßlich Schmeckendes einem
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