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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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ungeahnte Möglichkeiten erwarten.
    Wenn wir so viele entfernte Länder besetzen könnten, ohne uns allzusehr anstrengen zu müssen, dann war es nach meinem Dafürhalten, gelinde gesagt, äußerst eigenartig, warum wir so viele Probleme damit hatten, mit einer kleinen Stadt fertig zu werden, die keine zweihundert Meilen entfernt liegt und in der man statt Geld Eisenbarren benutzt. Was mir zusagte, war die Argumentation, die ich von Kleonymos und seinen Freunden hörte. Sie warfen die Frage auf, wer im Peloponnesischen Bund die meisten Kriegsschiffe besitze. Natürlich Korinth. Und ob es nicht der Wahrheit entspreche, daß der Großteil des in die Peloponnes eingeführten Getreides von korinthischen Schiffen befördert werde? Und woher holten die Korinther das Getreide, das sie an ihre Verbündeten lieferten? Stammte es nicht von den goldenen Ebenen Siziliens und ganz besonders von ihren Verbündeten, den Syrakusern? Und hätten wir nicht ebenfalls Verbündete in Sizilien, gute, zuverlässige Ortschaften mit viel Geld, die in Angst vor einem syrakusischen Angriff lebten? Welchen besseren Vorwand für ein Eingreifen in Sizilien gebe es für uns, als zur Unterstützung unserer eigenen Städte zu eilen? Aber es gehe noch weiter, denn diese Städte hätten tatsächlich angeboten, uns für den Krieg aus ihren unerschöpflichen Reserven an Silbermünzen zu bezahlen, so daß er Athen nicht einen Obolos kosten würde. Falls wir Erfolg haben sollten (und wie könnten wir schon scheitern?), würden wir uns nicht nur den unermeßlichen Reichtum Siziliens unter den Nagel reißen, sondern zusätzlich Korinth und somit die Peloponnes vom Hauptlieferanten der eingeführten Nahrungsmittel abschneiden. Korinth wäre damit erledigt und müßte sich uns anschließen, die Peloponneser verlören gleichzeitig ihre Nahrungsversorgung und ihre Flotte, und mit der uneingeschränkten Herrschaft über das Meer und dem Isthmos von Korinth in unserer Hand könnten wir sie einfach verhungern lassen.
    Schließlich sei Sizilien für uns kein unbekanntes Land mehr, fuhren sie fort, da wir dort erst vor ein paar Jahren einige Schlachten geschlagen hätten. Stimmt, diese seien zwar nicht sonderlich erfolgreich verlaufen, von einem Scheitern könne aber gleichfalls nicht die Rede sein; außerdem seien die damals von uns ausgesendeten Truppen zu klein und schlecht ausgerüstet gewesen und von Dummköpfen wie Laches geführt worden. Nun hielten einige Leute dagegen, Syrakus sei eine große Stadt, mächtig und gut bewaffnet; aber diese Leute würden in der Vergangenheit leben, in der Zeit der Perserkriege. Damals, als die Tyrannen Gelon und Hieron noch an der Macht gewesen seien, habe das gestimmt, und zu jener Zeit sei die Stärke der sizilianischen Städte der aller anderen Griechen zusammen durchaus gleichwertig gewesen. Aber mittlerweile hätten sie sich in Kriegen mit den Karthagern selbst aufgerieben, und die Tyrannen in Syrakus seien abgesetzt und durch eine wacklige Demokratie abgelöst worden, die sich mit dem Adel in einem ständigen Kampf um die Herrschaft über die Stadt befinde. Bei zwei Parteien, die wir in einer Art und Weise gegeneinander ausspielen könnten, wie sie keine Nation der Welt besser beherrsche als die unsere, werde es uns mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gelingen, die Herrschaft über Syrakus zu erringen, was in Wirklichkeit die Herrschaft über Sizilien bedeute, ohne eine einzige Schlacht austragen zu müssen.
    Diese Argumente wurden zu einer Zeit vorgebracht, als das Bedürfnis, etwas zu unternehmen, seinen Höhepunkt erreicht hatte. Ohne sie, so glaube ich, wäre die Erregung verflogen – es hätte irgendeinen Skandal oder eine Krise gegeben, und die Welt westlich von Piräus wäre vollkommen vergessen worden –, doch dadurch, daß man den bislang verschwommenen Vorstellungen innerhalb der Bevölkerung eine realistische Form gab, konnten die Verfechter des Sizilienprojekts die Träume der Athener vor ihren Karren spannen, wie einst Aiolos die vier Winde in einem Schlauch einschloß.
    Natürlich gab es Leute, die dieser Idee entgegentraten, aber die meisten von ihnen waren Liebhaber des gesprochenen Wortes, die nur etwas ablehnten, um eine interessante Debatte hervorzurufen. Selbstverständlich waren sie nicht um Argumente verlegen, denn so etwas ist einem Athener fremd. Einige von ihnen riefen die Entsendung der großen Streitmacht nach Ägypten in Erinnerung. Das war kurz nach den Perserkriegen, als wir den
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