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Der Ziegenchor

Der Ziegenchor

Titel: Der Ziegenchor
Autoren: Tom Holt
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gründlich aufgeräumt), und deutete dies als ein schlechtes Vorzeichen. Hermes, hieß es, sei der Gott des sicheren Geleits – er begleitet uns, wenn unsere Seelen über den Styx setzen, und wacht über alle Gesandten und gefahrvollen Reisen –, und nun seien seine Statuen nur noch für den Kalkofen zu gebrauchen, also müsse der Gott böse mit uns sein. Ich glaube, der Hauptgrund für die Panik war, daß niemand wußte, wer es getan hatte, weil alle (außer mir) geschlafen hatten; entweder war man früh zu Bett gegangen, weil man am nächsten Tag mit der Flotte in See stechen mußte, oder man hatte sich auf Abschiedsfeiern herumgetrieben und schlief seinen Rausch aus. Deshalb konnte man nur raten, wer für die Verwüstungen verantwortlich war, und unter solchen Umständen neigten alle dazu, geheime Verschwörungen zu vermuten. Bei Tagesanbruch herrschte die allgemeine Ansicht vor, die Tat sei von der antidemokratischen Partei (wer immer das war) verübt worden, um Unglück über die Flotte zu bringen und danach die Herrschaft über den Staat an sich zu reißen. Das hörte sich natürlich sehr besorgniserregend an.
    Bringen Sie drei oder vier Athener zusammen an einen Tisch, und sie werden sofort fordern, den Heerführer wegen Hochverrats anzuklagen. Der Heerführer war zu jener Zeit natürlich Alkibiades; und aufgrund der unergründlichen Vorgänge in der demokratischen Denkungsart nahm man zweifelsfrei an, daß er den Feldzug selbst sabotiert haben mußte, da dieser seine Idee gewesen und von ihm geplant und organisiert worden war. Schließlich gehe Alkibiades immer auf Feiern und betrinke sich, sagten die Menschen, und Leute, die sich betrinken, zerschlügen auch Statuen. Daraus folge, wie die Nacht auf den Tag folge, daß Alkibiades entweder allein oder mit Komplizen die Statuen zerschlagen haben müsse.
    Nun wußte ich ganz genau, daß er es nicht getan hatte, aber selbst ich bin nicht so dumm, in solch einem Moment den Mund aufzumachen, und schwieg deshalb lieber. Schließlich hegte ich für den Mann keine große Liebe, und in Anbetracht seiner Laufbahn bis zu jenem Tag war es eigentlich unumgänglich, daß er früher oder später hingerichtet werden würde, warum also nicht gleich? Außerdem bin ich ein Athener und muß von daher immer jemanden finden, auf den ich die Schuld für meine Mißgeschicke schieben kann; und ich glaube, tief im Innern habe ich Alkibiades die Schuld gegeben – wäre von ihm nicht der Feldzug organisiert worden, hätte es für mich auch keine Flotte gegeben, mit der ich nicht hatte auslaufen dürfen. Natürlich war dieses Vorgehen falsch, aber dafür sollte ich später noch reichlich bestraft werden.
    Jedenfalls steckten die Athener in einem Dilemma – klagten sie Alkibiades nicht wegen Hochverrats an, konnten sie ihn nicht wegen Gotteslästerung hinrichten; taten sie es aber doch, würde es kein Sizilienprojekt geben, und alle müßten an die Arbeit zurückkehren. In der Volksversammlung gab es darüber eine hitzige Debatte, in der jeder jeden als Monarchisten beschimpfte und beschuldigte, Flottengeheimnisse an die Perser verraten zu haben, und letzten Endes kam man zu einem athenischen Kompromiß. Alkibiades sollte zunächst die Flotte zu Eroberung und Ruhm nach Sizilien führen, und erst nach seiner Rückkehr sollte er wegen Gotteslästerung vor Gericht gestellt werden. Dadurch hätten seine Gegner reichlich Zeit, die erforderlichen Zeugen zu kaufen, und alles könne sich auf zwei Hochgenüsse freuen statt auf einen.
    Klingt das so, als würde ich Athen und dieses Ungeheuer hassen, das wir Demokratie zu nennen gewohnt waren? Das tue ich nicht. Ich glaube, ich empfand zu jener Zeit für meine Stadt dieselben verworrenen Gefühle wie für Phaidra; selbst wenn sie sich ganz schrecklich benahm, zog sie mich vollkommen in ihren Bann, und ich hätte auf keinen Fall eine andere Stadt oder eine andere Frau haben wollen, nicht einmal für all den Reichtum des Königs Gyges. Mein ganzes Leben lang habe ich die Festspiele geliebt, wo auf drei Tragödien eine Komödie folgt und sich Tragik und Komik im Kopf vermischen, bis man sie kaum noch auseinanderhalten kann. Nun, ich bin ein Verehrer der Komödie: Ich glaube absolut an sie, als sei sie der Sinn des Lebens und der Menschheit, und ich glaube, daß Zeus wie ich denkt, denn das ist die einzig mögliche Erklärung, die mir für die meisten Dinge einfällt, die geschehen. Deshalb sondere ich die Komödie ab, trenne sie wie Weizen von der
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