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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb
Autoren: Terry Pratchett
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nützlich, denn es gab ihm Zeit, an mehr Uhren zu arbeiten. Die ihm ihrerseits mehr Gold einbrachten. Gold stellte mehr oder weniger etwas dar, das den Platz zwischen Uhren einnahm.
    »Ich kann dir auch Invar besorgen, in großen Mengen«, sagte Lady LeJean. »Das ist Teil deines Lohns, obwohl ich dir zustimmen muss: Nicht einmal Invar dient deinem Zweck. Nun, Herr Jeremy, wir beide wissen, was die eigentliche Bezahlung ist – die Möglichkeit, die erste wirklich genaue Uhr zu konstruieren.«
    Jeremy lächelte nervös. »Es wäre… wundervoll, wenn sich so etwas bewerkstelligen ließe«, sagte er. »Es wäre… das Ende der Uhrmacherei.«
    »Ja«, bestätigte Lady LeJean. »Niemand müsste jemals wieder eine Uhr bauen.«
     
    Tick
     
    Dieser Schreibtisch ist aufgeräumt.
    Darauf liegt ein Stapel Bücher. Und ein Lineal.
    Derzeit auch eine Uhr aus Pappe.
    Fräulein Susanne griff danach.
    Die anderen Lehrerinnen an der Schule hießen Stefanie und Joan und so weiter, aber für ihre Klasse war Susanne strikt Fräulein. Das Wort »strikt« beschrieb sie sehr gut. Im Klassenzimmer bestand Susanne darauf, mit »Fräulein« angesprochen zu werden, wie ein König auf der Anrede »Euer Majestät« besteht, und zwar aus dem gleichen Grund.
    Fräulein Susanne trug Schwarz, wovon die Rektorin nichts hielt. Aber sie konnte keine Einwände dagegen erheben, denn schließlich war Schwarz eine respektable Farbe. Susanne war jung, aber etwas an ihr strahlte Alter aus. Ihr blondes, fast weißes Haar mit der einen dunklen Strähne trug sie in einem Knoten. Auch davon hielt die Rektorin nichts – es vermittelte ein archaisches Lehrerbild, meinte sie mit dem verbalen Nachdruck einer Person, die in Kursiv sprechen kann. Sie wagte es nie, Kritik an der Art und Weise zu üben, in der sich Fräulein Susanne bewegte, denn Fräulein Susanne bewegte sich wie ein Tiger.
    Es fiel immer schwer, Fräulein Susanne in ihrer Gegenwart zu kritisieren, denn dann riskierte man einen Blick von ihr. Der Blick war nicht etwa drohend, sondern kühl und ruhig. Aber man wollte ihn nie wieder sehen.
    Der Blick funktionierte auch im Klassenzimmer. Zum Beispiel bei den Hausaufgaben, einer weiteren archaischen Praxis, welche die Rektorin vergeblich missbilligte. Bei den Schülern von Fräulein Susanne geschah es nie, dass der Hund die Schularbeiten fraß, denn ein Teil von Fräulein Susanne begleitete sie nach Hause. In ihrem Fall brachte der Hund den Stift und sah flehentlich zu, während sie die Hausaufgaben erledigten. Fräulein Susanne schien auch einen besonderen Instinkt zu haben, der sie in die Lage versetzte, Faulheit und Mühe zu erkennen. Entgegen den Anweisungen der Rektorin ließ sie die Kinder nicht das machen, was ihnen gefiel. Stattdessen machten sie, was ihr gefiel. Es war für alle viel interessanter, wie sich herausgestellt hatte.
    Fräulein Susanne hob die Pappuhr und fragte: »Wer kann mir sagen, was dies ist?«
    Ein Wald aus Händen kam nach oben.
    »Ja, Miranda?«
    »Das ist eine Uhr, Fräulein.«
    Fräulein Susanne lächelte und übersah ganz bewusst die Hand eines Jungen, der Vincent hieß und mit Geräuschen, die nach »uh, uh, uhm«, klangen, die Aufmerksamkeit der Lehrerin zu wecken versuchte. Sie entschied sich für den Schüler dahinter.
    »Fast richtig«, sagte sie. »Ja, Samuel?«
    »Es ist Pappe, die wie eine Uhr aussieht «, sagte der Junge.
    »Richtig. Seht immer das, was wirklich da ist. Hiermit soll ich euch beibringen, wie man die Uhrzeit liest.« Fräulein Susanne schnaubte abfällig und warf die Pappuhr von sich.
    »Sollen wir es auf eine andere Weise versuchen?«, fragte sie und schnippte mit den Fingern.
    »Ja!«, riefen die Schüler wie aus einem Mund. Es folgte ein »Aah!«, als Wände, Boden und Decke verschwanden – Tische und Stühle schwebten hoch über der Stadt.
    Wenige Meter entfernt ragten die rissigen Steine des Uhrturms der Unsichtbaren Universität empor.
    Die Kinder wechselten aufgeregte Blicke. Der Umstand, dass sich ihre Füße mehr als hundert Meter über dem Boden befanden, beunruhigte sie überhaupt nicht. Seltsamerweise schienen sie auch nicht überrascht zu sein. Sie verhielten sich wie Kenner, die bereits andere interessante Dinge gesehen hatten. In Fräulein Susannes Klasse bekam man Gelegenheit, interessante Dinge zu sehen.
    »Nun, Melanie«, sagte Fräulein Susanne, als eine Taube auf ihrem Pult landete, »der große Zeiger steht auf der zwölf, und der riesige Zeiger hat fast die zehn erreicht.
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