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Der Zeitdieb

Der Zeitdieb

Titel: Der Zeitdieb
Autoren: Terry Pratchett
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Also ist es…«
    Vincents Hand sauste nach oben. »Uh, Fräulein, uh, uhm…«
    »Fast zwölf Uhr«, brachte Melanie hervor.
    »Gut. Aber hier …«
    Schemen huschten vorbei. Die Tische und Stühle behielten ihre Anordnung bei, standen jetzt aber auf dem Kopfsteinpflaster eines Platzes in einer anderen Stadt. Der Rest des Klassenzimmers hatte an der Reise teilgenommen: die Schränke, der Naturlehrtisch, die Tafel. Wände, Decke und ursprünglicher Boden blieben verschwunden.
    Die Leute auf dem Platz schenkten den Neuankömmlingen keine Beachtung, aber erstaunlicherweise wahrten sie alle einen gewissen Abstand. Es war warm; die Luft roch nach Meer und Sumpf.
    »Weiß jemand, wo wir sind?«, fragte Fräulein Susanne.
    »Uh, Fräulein, uh, uh, uhm…« Vincent streckte sich so weit nach oben, dass er riskierte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
    »Was ist mit dir, Penelope?«, fragte Fräulein Susanne.
    »Oh, Fräulein «, seufzte der enttäuschte Vincent.
    Penelope war wunderschön, sanftmütig und begriffsstutzig. Sie blickte über den Platz, auf dem reger Betrieb herrschte, sah zu den weißen, mit Markisen ausgestatteten Gebäuden. In ihrem exquisiten Gesicht zeigte sich so etwas wie Panik.
    »Letzte Woche kamen wir in Geographie hierher«, sagte Fräulein Susanne. »Eine von Sümpfen umgebene Stadt. An einem Fluss namens Vieux. Für ihre Küche bekannt. Viele Meeresfrüchte…?«
    Falten bildeten sich auf Penelopes hübscher Stirn. Die Taube auf Fräulein Susannes Pult flatterte davon und gesellte sich zu den anderen Tauben, die auf dem Kopfsteinpflaster nach Krumen suchten. Gurrend unterhielten sie sich auf Taubisch.
    Fräulein Susanne wusste, dass viel geschehen konnte, während Penelope einen Gedankengang zu Ende brachte. Sie zeigte auf eine Uhr über einem Geschäft auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes und fragte: »Kann mir jemand sagen, wie spät es hier in Gennua ist?«
    »Uh, Fräulein, Fräulein, uh…«
    Zur hörbaren Enttäuschung von Vincent hielt es ein Junge namens Gordon für möglich, dass es eventuell drei Uhr war.
    »Ja, das stimmt«, sagte Fräulein Susanne. »Kann mir jemand erklären, warum es in Gennua drei Uhr ist, in Ankh-Morpork aber zwölf Uhr?«
    Diesmal ließ es sich nicht vermeiden. Wäre Vincents Hand noch schneller nach oben gekommen, hätte sie sich aufgrund der Luftreibung entzündet. » Ja, Vincent?«
    »Uh Fräulein die Lichtgeschwindigkeit Fräulein beträgt sechshundert Meilen pro Stunde und derzeit steigt die Sonne in der Nähe von Gennua über den Rand und deshalb braucht zwölf Uhr drei Stunden bis zu uns Fräulein!«
    Fräulein Susanne seufzte. »Ausgezeichnet, Vincent«, sagte sie und stand auf. Alle Blicke folgten ihr, als sie zum Schrank mit dem Schreibmaterial ging, der sie nach Gennua begleitet hatte. Ein aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht dünne Linien in der Luft bemerkt, die Wände, Fenster und Türen andeuteten. Wäre der Beobachter außerdem auch noch intelligent gewesen, hätte er gefragt: Das Klassenzimmer ist also noch immer in Ankh-Morpork und gleichzeitig in Gennua? Steckt irgendein Trick dahinter? Ist dies die Wirklichkeit oder ein Trugbild? Oder gibt es bei dieser besonderen Lehrerin vielleicht kaum einen Unterschied zwischen dem einen und dem anderen?
    Das Innere des Schranks war ebenfalls anwesend. In einem dunklen, nach Papier riechenden Fach bewahrte Fräulein Susanne die Sterne auf.
    Es gab goldene und silberne. Ein goldener Stern war drei silberne wert.
    Auch davon hielt die Rektorin nichts. Sie meinte, so etwas fördere den Wettbewerbsgeist. Fräulein Susanne erwiderte, genau darum ginge es, und die Rektorin eilte fort, um einem Blick zu entgehen.
    Silberne Sterne gab es nicht oft, und goldene weniger als einmal in zwei Wochen, weshalb sie als sehr erstrebenswert galten. Fräulein Susanne wählte einen silbernen Stern. Es dauerte bestimmt nicht mehr lange, bis Vincent der Eifrige eine eigene Galaxie besaß. Gerechterweise musste man sagen, dass es Vincent völlig gleich war, was für einen Stern er bekam. Ihm kam es allein auf Quantität an. Insgeheim nannte ihn Fräulein Susanne auch »Der Junge, der vermutlich einmal von seiner zukünftigen Ehefrau umgebracht wird«.
    Sie trat wieder vor die Klasse und legte den silbernen Stern verlockend aufs Pult.
    »Und nun eine ganz besondere Frage«, sagte sie mit einem Hauch Bosheit. »Bedeutet es, dass es dort ›dann‹ ist, wenn es hier ›jetzt‹ ist?«
    Die Hand verharrte auf
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