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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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Stanislaw.
    »Das weiß ich«, antwortet er im verbindlichen Ton eines Mannes von Welt. »Aber man kann doch auf verschiedenste Weise dem treu bleiben, an das man glaubt.«
    »O ja«, sage ich, »natürlich.«
     
    Ich kann an keinem Bücherstand vorübergehen, ohne ein paar der Bände in die Hand zu nehmen, die da umgeben von all dem anderen Krimskrams, den Straßenhändler feilbieten, zum Verkauf ausliegen. Ich blättere in diesen alten Büchern, sehe mir an, wie sie gebunden sind, mache eine anerkennende Bemerkung, wenn ich eine besonders schöne Vergoldung sehe, oder unterhalte mich mit den Verkäufern über das Leder. Manchmal frage ich sie, wo sie diesen oder jenen Band herhaben. Man muss dem Tod auf den Fersen bleiben, sagen sie: Der beste Zeitpunkt, Bücher aus einem Nachlass zu kaufen, ist direkt nach der Beerdigung. Die Erben, die nicht für die erstbeste Gelegenheit dankbar sind, alte Schmöker gegen klingende Münze umzutauschen, kann man an fünf Fingern abzählen.
    Ich bin dabei, eine Bibliothek aufzubauen, Vorräte an geistiger Nahrung für die langen, einsamen Abende anzulegen, die mich er
warten. Bücher, so glaube ich, werden mir helfen, besser zu verstehen, was ich erlebt habe, und mir Kraft geben, an meiner Entscheidung festzuhalten, nicht nach Russland zurückzukehren. Meine letzte Erwerbung war Candide, ou l'Optimisme . Das Werk wurde unter strenger Geheimhaltung nach Warschau geschmuggelt und nur wenigen ausgesuchten Buchhändlern angeboten. Der Autor, der sich hinter dem Pseudonym Docteur Ralph verbirgt, ist natürlich kein anderer als Voltaire.
    Aber an den Abenden versenke ich mich in die Lektüre von Tacitus. Ich lese von dekadentem Luxus, der die Besiegten verführen und betäuben soll, von dem Zuckerbrot, das man ihnen gibt, damit sie ihre Seelen verkaufen. Ich las davon, dass man Spione aussandte, die Trauernde beobachten sollten – denn auch das, worum ein Mensch trauert, verrät viel über ihn.
    An der Macht festhalten, so lese ich, ist wie an einem Wolf festhalten.
     
    Pan Korn, der einen kleinen gutgehenden Buchladen an der Krakowskie Przedmieście besitzt, setzt große Erwartungen in den neuen König. »Einen aufgeklärten Mann«, so nennt er Stanislaw. »Ein Mann, der Bücher nicht nur mit sich herumträgt, sondern sie liest.«
    Pan Korn kann als durchaus gutaussehend gelten mit seinen dunkelbraunen Haaren, die in der Mitte gescheitelt sind, den dichten dunklen Brauen und den ruhigen Augen. Und er lächelt immer, wenn ich mit Darja in seinen Laden komme.
    Ein Buchhändler, denke ich. Das ist nicht so weit entfernt von einer Buchbinderstochter.
    Er setzt uns Tee mit Honig vor und Strudel mit Walnüssen und Rosinen. Darja darf in den Regalen stöbern und die Abenteuerbücher mitnehmen, an denen sie in letzter Zeit Geschmack gefunden hat. Gestern hat er ihr Das Leben und die seltsamen, überraschenden Abenteuer des Robinson Crusoe geschenkt, und sie hat es schon halb gelesen, ganz hingerissen von den Beschreibun
gen der einsamen Insel und all der nützlichen Beschäftigungen, mit denen der Held seine Tage dort zubringt.
    Wie andere Bewohner dieser Stadt plaudert Pan Korn gern und erzählt mir Geschichten aus seinem Leben. Seine Familie stammt aus Deutschland, aber er war noch klein, als seine Eltern hierher kamen, weswegen er die Sprache seiner Vorfahren zwar versteht, aber nicht wirklich kann.
    Warum sind sie ausgewandert?
    Die Überlegungen, die einen Menschen dazu bringen, seine Sachen zu packen und seinem Heimatland den Rücken zu kehren, sind immer dieselben, sagt er lächelnd.
    Er fragt mich, wie es in Russland ist. Die Reiseberichte, die er gelesen hat, fand er unbefriedigend. Ein Reisender, meint er, bemerkt vor allem Dinge, die anders und fremd sind. Einzelheiten, die vielleicht wichtig und bedeutsam sind oder auch nicht.
    »Sie haben dort gelebt«, sagt er. »Erzählen Sie mir davon.«
    Ich habe dort gelebt, das stimmt, aber auch von mir bekommt er nur Bruchstücke. Der eisige Wind, der das Wachstum der Bäume hemmt. Der Geruch von ladan , der noch lange nach der Osterprozession über den Ikonen schwebt. Wie das Eis dunkler wird, wenn der Frühling naht, und Risse bekommt wie ausgetrocknete Erde.
    »Sie sprechen nie von Menschen«, bemerkt er.
    »Ich möchte nicht lügen.«
     
    Stanislaws Krönung soll am 25. November stattfinden, am Fest der heiligen Katharina. Die Wahl des Datums stößt auf viel Kritik – das geht dann doch zu weit, finden die Leute.
    Über rote
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