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Der Winterpalast

Der Winterpalast

Titel: Der Winterpalast
Autoren: Eva Stachniak
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ich eine Wohnung gemietet hatte, war es schon dunkel; die Laternen von Passanten tanzten wie Glühwürmchen.
    »Die Straßen hier sind so schmutzig«, sagte Darja naserümpfend.
    Mittlerweile hat sie immer noch keine sehr hohe Meinung von Warschau. Die Palais des Adels sind, verglichen mit denen in Sankt Petersburg, armselig klein, und es gibt keine Kanäle, keine herrschaftlichen Parkanlagen und nur schmale Brücken.
     
    Ich habe die beiden auf Russisch miteinander flüstern hören: Mascha vertraute meiner Tochter an, wie sehr sie sich nach Hause sehnt.
    Nicht nach Sankt Petersburg, nicht nach dem Leben am Hof, sondern nach Russland, wo der eisige Wind über riesige dunkle Wälder streicht. Nach Januarnächten, die vom silbernen Licht des Mondes erhellt werden. Nach Eisschollen, die sich aneinander reiben, nach Felsen, in denen kostbare Steine wie gefrorene Blutstropfen schimmern. Nach heiligen Orten, von denen aus man in besonderen Momenten, die niemand voraussagen kann, einen Blick in die andere Welt erhascht.
    Maschas gutes Auge blickt traurig und leer, ihr Atem riecht nach Wodka. Wenn ich sie darauf anspreche, schüttelt sie nur verstockt den Kopf.
    »Wann fahren wir wieder nach Hause?«, fragt sie mich.
    Ich sage ihr, ich weiß es nicht, und sie geht traurig schlurfend weg.
    »Sie möchte in Russland sterben«, sagt Darja. »Sie möchte in dem Dorf, in dem sie aufgewachsen ist, begraben werden, an der Seite ihrer Mutter.«
    Mascha spricht vom Sterben, als wäre es eine Heimkehr von einer langen Reise. Sie möchte mit dem Gesicht zum Meer hin begraben werden, in der sandigen Erde des Nordens, in der die Toten nicht verwesen. Sie wünscht sich ein einfaches Grab, dessen Boden mit frisch geschnittenen Fichtenzweigen ausgelegt ist, damit man die Seile, an denen man den Sarg hinuntergelassen hat, leicht herausziehen kann. Ein Grab, auf das alte Frauen aus ihrem
Dorf Brotkrumen streuen, an dem sie sitzen und darüber sinnieren, wie weit Mascha in ihrem Leben herumgekommen ist, und sich fragen, ob sie wohl jemals jene andere Welt gesehen hat.
     
    »Barbara.« Stanislaw nennt mich bei meinem polnischen Namen, wenn er uns besuchen kommt. »Eine Freundin aus einer kostbaren Vergangenheit.«
    Er trägt jetzt sein dichtes schwarzes Haar hinten zusammengebunden. Die Zeit meint es gut mit ihm: Er ist jetzt zweiunddreißig und sieht keinen Tag älter aus als vor sechs Jahren, als er Sankt Petersburg verließ.
    Er fragt mich nicht nach den Gründen meiner Reise.
    Fürst Repnin hat vor Kurzem Katharinas offizielle Grußbotschaft gebracht: Polen hat seinen König klug gewählt. Die Kaiserin von Russland prophezeit Stanislaw, seiner Familie und seinem Land eine große Zukunft.
    »Sie haben sie vor wenigen Monaten gesehen«, sagt Stanislaw. »Hat sie von mir gesprochen?«
    »Aber ja, natürlich«, antworte ich. Ich möchte ihn nicht verletzen.
    Stanislaw sitzt schweigend in meinem Salon. Ein bleicher Sonnenstrahl beleuchtet sein Profil. Woran denkt er? An ihren Traum von zwei mächtigen slawischen Nationen, in Eintracht regiert von einer Philosophin und einem Philosophen, die sich der Vernunft und dem Wohl ihrer Untertanen verpflichtet wissen?
    In diesem Land wird nicht geflüstert. Kaufleute beklagen sich offen über Kunden, die ihre Schulden nicht zahlen, Ärzte und Apotheker diskutieren eifrig die Details von Therapien. Und alle reden über Stanislaw. Er bezieht von seinen Gütern ein Einkommen von gerade einmal fünfzigtausend Zloty. Ein gewisser Szydlowski will ihm seine Tochter aufdrängen. Selbst das Wappen der Familie Poniatowski bietet der Nation Gesprächsstoff. Es zeigt einen jungen Stier, was zu allerlei heiteren Überlegungen Anlass gibt: Deutet es vielleicht auf das feurige Temperament des Königs, oder
zeigt es eher an, dass er den polnischen Hof in einen Viehstall verwandeln wird?
    Die Leute hier mögen Katharina nicht.
    Die russischen Soldaten, die Stanislaws Onkel ins Land gerufen haben, »um den Frieden zu sichern«, stehlen nicht nur ein paar Hühner und machen Zäune kaputt, sie sind wie Heuschrecken, die alles verwüsten. Wenn sie wieder abziehen, lassen sie kahle Felder und mit ihren Bastarden schwangere Landmädchen zurück. So reden die Leute auf den Straßen von Warschau.
    Russisches Geld, russisches Militär, russische Diplomatie haben Stanislaw zum König gemacht. Was wird er den Russen als Gegenleistung geben?
    »Die Kaiserin kann es sich nicht leisten, auf ihr Herz zu hören«, sage ich zu
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