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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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auf ungefähr 39. Sie schien entspannt zu schlafen. Er stellte sich vor, wie sie in einer Kabine saß, Kopfhörer über ihr mausgraues Haar geklemmt, strahlend und hellwach, beim unerbittlichen Simultandolmetschen. Was können Sie für mich tun. Nein. Was kann ich für Sie tun.
    Als die Nacht vorrückte, beschloss Lev, sich versuchsweise an bestimmte wichtige Zigaretten aus der Vergangenheit zu erinnern. Er besaß eine lebhafte Phantasie. In der Baryner Sägemühle hatte man ihn abschätzig einen »Träumer« genannt. »Das Leben ist nicht zum Träumen da, Lev«, hatte sein Chef ihn gewarnt. »Träumen führt zu Subversion.« Lev wusste, dass er ein empfindsames Naturell besaß, leicht abzulenken war und wegen der seltsamsten kleinen Dinge schnell fröhlich oder melancholisch wurde und dass diese Veranlagung seine Kindheit und Jugend geprägt und ihn womöglich als erwachsenen Mann daran gehindert hatte, mit dem Leben gut zurechtzukommen. Besonders seitdem Marina nicht mehr da war. Weil ihr Tod ihn jetzt ständig begleitete, wie ein Schatten auf einem Röntgenbild seiner Seele. Andere Männer wären vielleicht in der Lage gewesen, diesen Schatten zu verjagen − mit Trinken oder mit jungen Frauen oder mit dem neuen Reiz des Geldverdienens −, aber Lev hatte es nicht einmal versucht. Er wusste, dass er noch nicht fähig war, Marina zu vergessen.
    Überall im Bus dösten die Reisenden. Einige waren zum Gang hin gesackt, mit herunterhängenden Armen, in einer Geste der Kapitulation. Ständig wurde irgendwo geseufzt. Lev zogdie Kappe noch tiefer ins Gesicht und beschloss, sich an das zu erinnern, was seine Mutter Ina und er »das Weihnachtsstern-Wunder« genannt hatten, weil es sich um eine Geschichte handelte, die zu einem guten Ende führte, zu einer Zigarette, so makellos wie die Liebe.
    Ina war eine Frau, die sich nie gestattete, ihr Herz an etwas zu hängen, denn, so sagte sie häufig: »Wozu, wenn das Leben einem alles wieder nimmt?« Aber ein paar Dinge gab es doch, die ihr Freude machten, und dazu gehörten Weihnachtssterne. Die scharlachroten Blätter, die tannenbaumartige Form und die Tatsache, dass sie eher einem exquisiten Kunstwerk als einer lebenden Pflanze ähnelten, weckten in Ina eine sachliche Bewunderung für ihre befremdliche Einzigartigkeit und ihre scheinbare Beständigkeit in einer Welt des ununterbrochenen Vergehens und Sterbens von Dingen.
    Vor einigen Jahren, kurz vor Inas 65. Geburtstag, war Lev eines Sonntagmorgens sehr früh aufgestanden und mit dem Rad vierzig Kilometer bis Yarbl gefahren, wo hinter dem Bahnhof auf einem Markt unter freiem Himmel Blumen und Pflanzen verkauft wurden. Es war ein beinah herbstlicher Tag, und auf die schweigenden Gestalten, die ihre Stände aufbauten, fiel ein zartes Licht. Lev sah vom Bahnhofsimbiss aus zu, rauchte und trank Kaffee und Wodka. Dann trat er ins Freie hinaus und begann, sich nach Weihnachtssternen umzuschauen.
    Das meiste, was auf dem Yarbler Markt verkauft wurde, waren Nutzpflanzen: Kohlstecklinge, Sonnenblumensamen, Kartoffelschösslinge, Johannisbeerbüsche, Heidelbeerstöcke. Aber immer mehr Menschen entsannen sich ihrer halbvergessenen Vorliebe für nutzlose Dinge, und das Angebot an Zierpflanzen stieg von Jahr zu Jahr.
    Weihnachtssterne waren schon aus der Ferne zu erkennen. Lev bewegte sich langsam und achtete auf Rot. Die Sonne beschien seine abgewetzten schwarzen Schuhe. Ihm war seltsam leicht zumute. Seine Mutter würde 65 Jahre alt werden, und erwürde sie überraschen und in Erstaunen versetzen, indem er ihr einen Kübel mit Weihnachtssternen auf die Veranda stellte, und abends würde Ina dort sitzen und stricken und sie bewundern, und die Nachbarn würden kommen und ihr gratulieren − zu den Blumen und zu ihrem Sohn, der sich so viel Mühe gemacht hatte.
    Doch es gab keine Weihnachtssterne auf dem Markt. Er marschierte auf und ab und starrte niedergeschlagen auf Möhrengrün, auf Zwiebelbündel, auf Plastiktüten, gefüllt mit Schweinemist und Asche.
    Keine Weihnachtssterne .
    Allmählich dämmerte Lev das Ausmaß der Katastrophe. Und so lief er von neuem die Reihe der Stände ab, blieb hier und da stehen und bedrängte die Standbesitzer und merkte, dass dieses Bedrängen etwas Anklagendes hatte, den Leuten unterstellte, sie seien Schwarzhändler , die die roten Pflanzen unter den Tapeziertischen versteckt hielten und auf Käufer warteten, die amerikanische Dollars oder Motorteile oder Drogen boten.
    »Ich brauche unbedingt
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