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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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Hunger mit Schüsseln voller Gulasch und Klößen und übernachteten in einem engen Raum, der nach Mottenkugeln und Bohnerwachs roch, und rührten sich nicht bis zum nächsten Morgen.
    Die Sonne stand hoch an einem klaren blauen Himmel, als Lev und Rudi das Haus des Tschewi-Besitzers fanden. Überall lag hoher, sauberer Schnee. Und da stand er, allein in der schäbigen Straße, unter einer einzelnen Linde, in seiner ganzen außerordentlichen Länge und Massigkeit, ein uralter himmelblauer Chevrolet Phoenix mit weißen Heckflossen und glänzender Chromverzierung; und Rudi fiel auf die Knie. »Das ist mein Mädchen«, sagte er. »Das ist mein Baby!«
    Er hatte seine Unvollkommenheiten. Ein Scharnier der Fahrertür war durchgerostet. Die Gummiblätter der Scheibenwischer hatten sich in vielen kalten Wintern fast vollkommen verschlissen. Alle vier Reifen waren abgefahren. Das Radio funktionierte nicht.
    Lev sah, wie Rudi zögerte. Er ging immer wieder um den Wagen herum, fuhr mit der Hand über die Karosserie, wischte Schnee vom Dach, untersuchte die Wischblätter, trat gegen die Reifen, öffnete und schloss die kaputte Tür. Dann sah er hoch und sagte: »Ich nehme ihn.« Anschließend begann er zu feilschen, aber der Besitzer merkte, wie sehr Rudi den Wagen habenwollte, und weigerte sich, mehr als nur ein winziges bisschen mit dem Preis herunterzugehen. Der Tschewi kostete Rudi alles, was er bei sich hatte, inklusive seines Schafwollmantels und seiner Pelzmütze und fünf der acht Wodkaflaschen, die noch im Koffer lagen. Der Besitzer war ein Mathematikprofessor.
    »Ich wüsste gern, woran Sie gerade denken«, sagte eine Stimme. Und es war Lydia, die jetzt ihre neue Beschäftigung unterbrach, das Stricken.
    Lev starrte sie an. Er dachte, dass es lange her war, seit ihn irgendjemand so etwas gefragt hatte. Oder vielleicht hatte ihn das noch nie jemand gefragt, weil Marina immer zu wissen schien, was in seinem Kopf vorging, und stets versucht hatte, sich auf das, was sie dort vorfand, einzustellen.
    »Ach«, sagte Lev, »ich habe an meinen Freund Rudi gedacht und wie ich damals mit ihm nach Glic gefahren bin, um ein amerikanisches Auto zu kaufen.«
    »Oh«, sagte Lydia. »Dann ist er reich, Ihr Freund Rudi?«
    »Nein«, sagte Lev. »Oder nie für lange. Aber er handelt gern.«
    »Handeln ist schlecht«, sagte Lydia naserümpfend. »Wir werden nie Fortschritte machen, solange es den Schwarzhandel gibt. Aber erzählen Sie mir von dem Auto. Hat er es bekommen?«
    »Ja«, sagte Lev. »Das hat er. Was stricken Sie da?«
    »Einen Pullover«, sagte Lydia. »Für den englischen Winter. Die Engländer nennen dieses Kleidungsstück ›Jumper‹, also Hüpfer.«
    »Jumper?«
    »Ja. Da haben Sie noch ein Wort. Erzählen Sie mir von Rudi und dem Auto.«
    Lev holte seine Wodkaflasche heraus und nahm einen Schluck. Dann erzählte er Lydia, dass Rudi, nachdem er den Tschewi gekauft hatte, ein paar Mal durch die leeren Straßendes Wohnblocks gefahren war, um das Lenken zu üben, während der Mathematikprofessor, eine Astrachanmütze auf dem Kopf, mit amüsierter Miene von seinem Hauseingang aus zuschaute.
    Dann hatten Lev und Rudi sich auf den Heimweg gemacht, die Sonne schien auf die stille, eisige Welt herab, und Rudi drehte die Wagenheizung voll auf und sagte, näher ans Paradies könne er nicht kommen. Der Motor machte tiefe, grollende Geräusche wie ein Schiffsmotor, und Rudi sagte, das sei der Klang Amerikas, melodisch und kraftvoll. Im Handschuhfach fand Rudi drei Tafeln Schweizer Schokolade, die vor Alter schon ganz bleich waren, und die aßen sie zwischen den Zigaretten, die sie sich mit dem glänzenden Zigarettenanzünder ansteckten, und Rudi sagte: »Jetzt habe ich meinen neuen Beruf in Auror: Taxifahrer.«
    Gegen Nachmittag hielten sie, viele Kilometer von ihrem Dorf entfernt, an einer Tankstelle, die aus einer rostigen Zapfsäule in einem stillen Tal bestand und dazu einem getüpfelten Hund, der aufpasste. Rudi hupte, und ein älterer Mann humpelte aus einer Holzhütte, in der Kohlensäcke zum Verkauf lagerten, und er sah den Tschewi so ängstlich an, als wäre es ein Panzer oder ein UFO, und der getüpfelte Hund erhob sich und begann zu bellen. Rudi, der nur seine Hosen, die Stiefel und sein kariertes Hemd anhatte, stieg aus, und als er die Fahrertür hinter sich zuschlug, brach das zweite Scharnier, und die Tür fiel in den Schnee.
    Rudi fluchte. Der Tankwart und er starrten auf dieses Missgeschick, für das es keine
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