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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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und schaute hinunter auf den Hafen mit seinen Kränen und Containern, den riesigen Schuppen, Büros und Parkplätzen und dem ölig glänzenden Kai. Es fiel ein fast unsichtbarer Regen. Möwen schrien, als riefen sie nach einer lang verlorenen Heimatinsel, und Lev dachte, wie hart es sein müsste, am Meer zu wohnen und jeden Tag dieses melancholische Geräusch zu hören.
    Das Meer war ruhig, und die Fähre legte so leise ab, als würden ihre großen Motoren von der Dunkelheit gedämpft. Lev lehnte an der Reling, rauchte und starrte auf den holländischen Hafen, der langsam davonglitt, und als das Land verschwunden war und Himmel und Meer sich in Schwärze vereinten, fielen ihm seine Träume aus der Zeit ein, als Marina starb, Träume, in denen er in einem Ozean trieb, der grenzenlos war und sich niemals an irgendeinem menschlichen Ufer brach.
    Von der salzigen Meeresluft schmeckte seine Zigarette bitter, darum trat er sie mit dem Fuß aus und legte sich zum Schlafen auf eine Bank auf dem Oberdeck. Er zog sich die Kappe über die Augen, und um zur Ruhe zu kommen, stellte er sich vor, wie die Nacht sich über Auror senkte, so wie sie seit jeher über die tannenbedeckten Hügel und die vielen Schornsteine und den hölzernen Turm der Schule hereinbrach. Und dort in dieser weichen Nacht lag Maya unter ihrer Gänsedaunendecke, den einen Arm zur Seite gestreckt, als zeigte sie einem unsichtbaren Besucher das kleine Zimmer, das sie mit ihrer Großmutter teilte: die beiden Betten, den Flickenteppich, die grün und gelb gestrichene Kommode, den Paraffinofen und die geöffneten quadratischen Fenster, die die kühle Luft, die nächtliche Feuchtigkeit und den Schrei der Eulen hereinließen ...
    Es war ein hübsches Bild, aber Lev konnte es nicht in seinem Kopf festhalten. Weil er wusste, dass Auror und ein halbes Dutzend anderer Dörfer durch die Schließung der Baryner Sägemühle dem Untergang geweiht waren, entglitten ihm immer wieder das Zimmer und das schlafende Mädchen und sogar das Bild von Ina, die im Dunkeln herumschlurfte, bevor sie zum Beten niederkniete.
    »Scheißgebete nützen nichts«, hatte Rudi gesagt, als der letzte Baum zersägt und abtransportiert worden war und alle Maschinen stillstanden. »Jetzt kommt die Abrechnung, Lev. Nur die Findigen werden überleben.«

2
Die Diana-Karte
    Morgens um neun hielt der Bus an der Victoria Station und entließ die müden Reisenden in die unerwartete Helligkeit eines sonnigen Tags. Sie blickten um sich, sahen den Glanz auf den Gebäuden, die blitzende Reihe von Gepäckwagen, die dunklen Schatten, die ihre Körper auf den Londoner Gehsteig warfen, und versuchten, sich an das grelle Licht zu gewöhnen. »Ich habe von Regen geträumt«, sagte Lev zu Lydia.
    Es kam ihm sehr warm vor. Lydias halbfertiger Jumper war in ihrem Koffer verstaut. Ihr Wintermantel lag schwer über ihrem Arm.
    »Auf Wiedersehen, Lev«, sagte sie und streckte ihre Hand aus.
    Lev beugte sich vor und küsste Lydia auf beide leberfleckigen Wangen und sagte: »Was können Sie für mich tun. Was kann ich für Sie tun.« Und sie lachten und machten sich auf den Weg − genau wie Lev es sich vorgestellt hatte −, jeder zu seiner eigenen Zukunft in der unbekannten Stadt.
    Aber Lev drehte sich um und beobachtete, wie Lydia zu einer Reihe schwarzer Taxis eilte. Während sie die Tür ihres Taxis öffnete, schaute sie zurück und winkte, und Lev sah, dass etwas Trauriges in ihrem Winken lag − vielleicht sogar ein plötzlicher, unerwarteter Vorwurf. Als Antwort berührte er den Schirm seiner Lederkappe − eine Geste, die, wie er wusste, entweder zu militärisch oder zu altmodisch war oder beides −, und dann fuhr Lydias Taxi los, und er sah sie entschlossen geradeaus blicken, wie eine Turnerin, die auf einem Schwebebalken balanciert.
    Lev nahm seine Tasche und machte sich auf die Suche nach einem Waschraum. Er wusste, dass er stank. Er konnte einenunangenehmen Tanggeruch unter seinem karierten Hemd ausmachen, und er dachte: Das passt ja auch, ich bin hier gestrandet, unter dieser unerwarteten Sonne, auf dieser Insel ... Er hörte, wie Flugzeuge über ihn hinwegdonnerten, und er dachte: Der halbe Kontinent ist hierher unterwegs, aber niemand hat es sich so vorgestellt, so heiß, und der Himmel so leer und blau.
    Er folgte den Schildern zu den Bahnhofstoiletten und stellte fest, dass er durch ein Drehkreuz am Betreten gehindert wurde. Er setzte seine Tasche ab und beobachtete, was die anderen Menschen taten. Sie
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