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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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Handtuch herum, um sie zu trocknen. Er holte Socken und ein sauberes Hemd aus seiner Tasche. Er fuhr mit einem Kamm durch sein dichtes graues Haar. Im kalten Licht des Waschraums wirkten seine Augen müde und sein sauber rasiertes Gesicht hager, aber er fühlte sich wieder wie ein Mensch; er fühlte sich bereit.
    Lev packte seine Sachen ein und ging zur Tür. Der Sikh auf seinem harten Plastikstuhl regte sich immer noch nicht, aber dann sah Lev, dass neben ihm eine Untertasse stand und dass darauf ein paar Münzen lagen − nur ein paar, weil die Menschen es hier offenbar viel zu eilig hatten, um sich Gedanken über ein Trinkgeld für den alten Mann mit den verletzten Augen zu machen −, und Lev war bekümmert, weil er keine Münze für die Untertasse hatte. Nachdem er so viel Seife benutzt und so viel Wasser auf den Boden gespritzt hatte, schuldete er dem Toilettenmann eine kleine Aufmerksamkeit. Er blieb stehen undsuchte in seinen Taschen und fand ein billiges Plastikfeuerzeug, das er im Busbahnhof in Yarbl gekauft hatte. Er wollte es gerade auf den Teller legen, da dachte er: Nein, dieser Sikh hat eine Arbeit und einen Stuhl zum Sitzen, und ich habe nichts, weshalb jeder einzelne Gegenstand, der mir gehört, zu kostbar zum Weggeben ist. Levs Gedankengang, was das verweigerte Trinkgeld anging, wurde immer raffinierter, denn nun fand er, der Sikh wirke so ungerührt von allem, was um ihn her geschehe, dass er bestimmt auch durch ein armseliges Feuerzeug nicht zu rühren sei. Und so ging Lev, erst durch das Drehkreuz, dann in die Sonne und auf die Straße hinaus, und er stellte sich vor, der Sikh werde sich nicht einmal die Mühe machen, den Kopf zu wenden und ihm vorwurfsvoll nachzuschauen.
    Dort, wo die Busse ankamen und abfuhren, blieb Lev stehen. Vor langer Zeit − zumindest schien es ihm lange her zu sein − hatte die junge Frau im Reisebüro, bei der er die Fahrt im Trans-Euro-Bus gebucht hatte, zu ihm gesagt: »Wenn Sie in London ankommen, werden Sie vielleicht von Leuten mit Arbeitsangeboten angesprochen. Wenn diese Leute auf Sie zukommen, unterschreiben Sie keinen Vertrag. Fragen Sie, um was für Arbeit es sich handelt und wie viel Ihnen gezahlt wird und was für eine Unterkunft man Ihnen anbietet. Wenn Ihnen die Bedingungen passend erscheinen, können Sie annehmen.«
    In Levs Vorstellung ähnelten diese »Leute« den Polizisten in Städten wie Yarbl und Glic, massigen Typen mit muskulösen Unterarmen, gesunder Gesichtsfarbe und Handfeuerwaffen, die an unauffälligen Stellen ihrer Körper saßen. Und jetzt begann Lev darauf zu hoffen, dass sie erscheinen und ihm alle Verantwortung für die nächsten Tage und Stunden seines Lebens abnehmen würden. Im Grunde war es ihm egal, worin die »Arbeit« bestand, solange er einen Lohn, eine Tagesstruktur und ein Bett zu Schlafen bekam. Er war so müde, dass er sich am liebsten dort, wo er war, in der warmen Sonne hingelegt und gewartet hätte, bis jemand aufkreuzte, aber dann fiel ihm ein, dass ernicht wusste, wie lange ein Tag dauerte, ein Sommertag in England, und wie schnell es Nachmittag und Abend werde würde, und er wollte bei Einbruch der Dunkelheit nicht mehr auf der Straße sein.
    Menschen kamen in Bussen, Taxis und Privatautos, andere fuhren weg, aber niemand näherte sich Lev. Er setzte sich in Bewegung, folgte der Sonne, plötzlich sehr hungrig, aber ohne einen Plan, nicht einmal, wie er seinen Hunger stillen könnte, wusste er. Er kam an einem Café vorbei, und der Geruch nach gutem Kaffee war verlockend, doch obwohl er auf dem Gehsteig vor dem Lokal zögerte, wagte er nicht, hineinzugehen, da er fürchtete, nicht den passenden Betrag für das zu besitzen, was er gern essen und trinken würde. Wieder dachte er an Rudi, wie der sich über diese jämmerliche Schüchternheit lustig gemacht hätte, einfach hineinspaziert wäre und die richtigen Worte und das passende Geld für das gefunden hätte, was er wollte.
    Die Straße, in der Lev sich befand, war breit und laut, rote Busse schaukelten dicht am Bordstein entlang, und der Gestank von Abgasen verpestete die Luft. Es war windstill. Auf einem hohen Gebäude sah er Fahnen, die schlapp an ihren Stangen hingen, und eine Frau mit langem Haar stand an der Gehsteigkante, still und stumm wie eine Figur in einem Gemälde. Ständig flogen Flugzeuge über ihn hinweg und bestickten den Himmel mit Rauchgirlanden.
    Vom belebten Boulevard bog Lev links in eine Straße, die mit Bäumen bepflanzt war, und er stellte
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