Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
unmittelbare Abhilfe zu geben schien, und selbst der Hund verfiel in ein verblüfftes Schweigen. Dann hob Rudi die Tür auf und versuchte, sie wieder einzusetzen, und obwohl das klappte, hielt sie nicht und musste mit einem zerfransten Stück Tau am Sitz festgebunden werden, und Rudi sagte: »Dieser verdammte Professor! Er wusste, dass das passieren würde. Er hat mich nach Strich und Faden beschissen.«
    Während der Tank mit Benzin gefüllt wurde, trampelte Rudi im Schnee herum, weil es wieder zu frieren begann und er weder Mantel noch Mütze hatte und die abgefallene Tür seine Glücksblase angestochen hatte. Lev stieg aus und untersuchte die kaputten Scharniere und sagte: »Es sind doch nur die Scharniere, Rudi. Die reparieren wir zu Hause.«
    »Ich weiß«, sagte Rudi, »aber bleibt die Scheißtür auch die nächsten hundert Kilometer am Auto? Das ist doch die Frage.«
    Randvoll mit Benzin, das Lev bezahlt hatte, fuhren sie weiter, dem Sonnenuntergang entgegen, und der Himmel war zuerst tieforange, dann rauchig rot, dann purpurfarben, und violette Schatten sprenkelten die Schneedecke der Felder, und Lev sagte: »Manchmal kann dieses Land wunderschön aussehen«, und Rudi seufzte und sagte: »Heute morgen sah es wunderschön aus, aber bald sind wir wieder zurück in der Dunkelheit.«
    Als die Dunkelheit hereinbrach, bildete sich Eis auf der Windschutzscheibe, aber die abgenutzten Scheibenwischer schabten nur darüber, rutschten langsam, mit einem ächzenden Geräusch, hin und her, und schon bald war es unmöglich, die Fahrbahn zu erkennen. Rudi fuhr den Wagen an den Straßenrand, und beide starrten sie auf die Muster, die das Eis gebildet hatte, und auf den schwachen gelben Strahl, den die Scheinwerfer auf die filigranen Zweige der Bäume warfen, und Lev sah, dass Rudis Hände zitterten.
    »Und was jetzt, verdammt noch mal?«, sagte Rudi.
    Lev zog seinen Wollschal aus und legte ihn Rudi um den Hals. Dann stieg er aus, öffnete den Kofferraum und holte eine der drei restlichen Wodkaflaschen aus dem Stroh und sagte zu Rudi, er solle den Motor abstellen, und als der Motor starb, zogen die Scheibenwischer einen letzten vergeblichen Bogen und legten sich dann nieder, wie zwei erschöpfte alte Menschen, die Kopf an Kopf neben einer Schlittschuhbahn zu Boden sinken. Lev öffnete die Flasche, nahm einen langen Zug und goss dannsehr langsam Alkohol über die Windschutzscheibe und sah zu, wie er durchsichtige Rinnen ins Eis grub. Während die Eisschicht nach und nach verschwand, konnte Lev Rudis breites Gesicht direkt hinter der Scheibe sehen, ein ehrfürchtig aufschauendes Kindergesicht. Und danach fuhren sie weiter durch die Nacht, hielten von Zeit zu Zeit, um weiteren Wodka nachzugießen, und beobachteten, wie die beleuchtete Nadel der Benzinuhr sank und sank.
    Lydia unterbrach ihr Stricken. Sie hielt sich den »Jumper« an die Brust, um zu sehen, wie viel sie noch stricken musste, bevor sie mit dem Abnehmen für die Schulternaht beginnen konnte. Sie sagte: »Dieser Ausflug fängt an, mich zu interessieren. Sind Sie zu Hause angekommen?«
    »Ja«, sagte Lev. »Im Morgengrauen waren wir da. Wir waren ziemlich müde. Eigentlich waren wir sehr müde. Und der Tank war fast leer. Dieses Auto ist so gierig, dass es Rudi noch ruinieren wird.«
    Lydia lächelte und schüttelte den Kopf. »Und die Tür?«, fragte sie. »Haben Sie sie repariert?«
    »Na klar«, sagte Lev. »Wir haben neue Scharniere aus einem Kinderwagen angelötet. Das hat gut geklappt. Bloß dass die Tür jetzt nur noch mit Gewalt aufgeht.«
    »Mit Gewalt? Aber Rudi fährt mit dem Tschewi immer noch Taxi? Mit dieser gewalttätigen Tür?«
    »Ja. Im Sommer lässt er alle Fenster offen, und beim Fahren spürt man den Wind in den Haaren.«
    »Oh, das würde ich nicht mögen«, sagte Lydia, »ich verbringe viel Zeit damit, mein Haar vor dem Wind zu schützen.«
    Es wurde wieder Nacht, als der Bus Hook van Holland erreichte und in einer langen Schlange auf die Fähre wartete. Für die Busreisenden waren keine Kabinen gebucht; man hatte ihnen geraten, sich eine Bank oder einen Liegestuhl zum Schlafen zu suchen und möglichst keine Getränke von der Bar an Bord zukaufen, da dort überhöhte Preise verlangt würden. »Wenn die Fähre in England anlegt«, sagte einer der Busfahrer, »sind wir nur noch etwa zwei Stunden von London und Ihrem Ziel entfernt, also versuchen Sie zu schlafen, wenn Sie können.«
    Sobald Lev an Bord war, machte er sich auf den Weg zum Oberdeck
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher