Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
Vom Netzwerk:
steckten Geld in einen Schlitz, und das Drehkreuz bewegte sich, aber das einzige Geld, das Lev besaß, war ein Stapel Zwanzigpfundscheine − von denen, wie Rudi ausgerechnet hatte, jeder eine Woche reichen würde, bis er Arbeit gefunden hätte.
    »Können Sie mir bitte helfen?«, sagte Lev zu einem gepflegten älteren Herrn, der sich dem Drehkreuz näherte. Aber der Mann warf seine Münze ein, drückte mit dem Unterleib gegen das Kreuz und hielt den Kopf beim Passieren so hoch, als wäre Lev ihm nicht einmal ins Blickfeld geraten. Lev starrte ihm hinterher. Hatte er die Wörter falsch ausgesprochen? Der Mann schritt einfach zielstrebig weiter.
    Lev wartete. Er wusste, dass Rudi, ohne eine Sekunde zu zögern, mit einem Satz über die Barriere gesprungen wäre, unbekümmert um die möglichen Konsequenzen, aber Lev hatte das Gefühl, Springen wäre ihm im Moment zu viel. Seinen Beinen fehlte Rudis unerschöpfliche Elastizität. Rudi machte sich seine Gesetze selbst, und die unterschieden sich von Levs, und das würde wahrscheinlich immer so bleiben.
    Während Lev dort stand, wuchs sein Bedürfnis, sich zu waschen, mit jedem Augenblick. Überall auf der Haut spürte er stechende Schmerzen, wie von einer Wunde. Er begann, auf der Kopfhaut zu schwitzen, und Schweiß lief ihm in den Nacken. Er spürte eine leichte Übelkeit. Er nahm eine Zigarette aus dem fast leeren Päckchen und zündete sie an, und die Männer, dieden Waschraum betraten und verließen, starrten ihn an, und dieses Starren ließ ihn auf ein Rauchen-verboten -Schild aufmerksam werden, das ein paar Schritte entfernt auf den Wandfliesen befestigt war. Er nahm einen letzten köstlichen Zug, trat die Zigarette mit dem Fuß aus und bemerkte, dass seine schwarzen Schuhe völlig verschmutzt waren, und dachte: Das ist der Schmutz meines Lands, der Schmutz ganz Europas, ich muss irgendwelche Lappen finden und ihn abwischen ...
    Nach einiger Zeit näherte sich ein unrasierter junger Mann im Overall und mit einer Werkzeugtasche aus Segeltuch dem Waschraum-Drehkreuz, und Lev beschloss, dass dieser Mann − weil er jung war und weil der Overall und die Werkzeugtasche ihn als Angehörigen des einst ehrenwerten Proletariats auswiesen − vielleicht nicht so tun würde, als hätte er ihn nicht gesehen, darum sagte er, so deutlich er konnte: »Können Sie mir helfen, bitte?«
    Der Mann hatte langes, ungepflegtes Haar, und sein Gesicht war ganz weiß von Gipsstaub. »Klar«, sagte er. »Was gibt’s?«
    Lev zeigte auf das Drehkreuz und hielt einen Zwanzigpfundschein hoch. Der Mann lächelte. Dann wühlte er in der Tasche seines Overalls, fand eine Münze, reichte sie Lev und nahm ihm den Schein weg. Lev machte ein bestürztes Gesicht. »Nein«, sagte er. »Nein, bitte ...«
    Aber der junge Mann wandte sich ab, passierte die Barriere und ging in Richtung Waschraum. Lev sah ihm mit offenem Mund hinterher. Kein einziges englisches Wort fiel ihm ein, und er fluchte laut in seiner eigenen Sprache. Dann sah er, wie der Mann mit einem Grinsen, das dunkle Linien in den weißen Staub auf seinem Gesicht zog, zurückkehrte. Er hielt Lev den Zwanzigpfundschein hin. »War nur ein Scherz«, sagte er. »Nur ein Scherz, Mann.«
    Lev stand in einer Kabine und zog seine Kleider aus. Er nahm ein altes gestreiftes Handtuch aus seiner Tasche und wickelte es sich um die Taille. Er spürte, wie die Übelkeit verschwand.
    Er ging zu einem der Waschbecken und ließ heißes Wasser laufen. Von einem Stuhl am Eingang aus beobachtete ihn, unter einem sorgfältig geschlungenen Turban, der Toilettenmann, ein älterer Sikh, unverwandt mit ernsten Augen.
    Lev wusch sich Gesicht und Hände, holte seinen Rasierapparat hervor und rasierte sich die vier Tage alten Stoppeln vom Kinn. Dann seifte er sich Achseln, Leistengegend, Bauch und Kniekehlen ein, wobei er darauf achtete, dass das fadenscheinige Handtuch nicht verrutschte. Der Sikh rührte sich nicht, starrte nur immerfort auf Lev wie auf einen alten Film, den er auswendig kannte und der ihn immer noch faszinierte, ihm aber nicht mehr zu Herzen ging. Warmes Wasser und Seife an seinem Körper zu spüren tat Lev so gut, dass er fast geweint hätte. In den Spiegeln des Waschraums sah er, wie Männer ihn flüchtig anschauten, aber niemand sagte etwas, und Lev seifte und schrubbte seinen Körper, bis er rosig war und leicht brannte und der Meeresgeruch verschwunden war. Er zog eine saubere Unterhose an, wusch anschließend seine Füße und trampelte auf dem
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher