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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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Weihnachtssterne«, hörte er sich sagen, wie ein vor Durst völlig ausgetrockneter Erwachsener oder ein bockiges Einzelkind.
    »Tut mir leid, Kamerad«, sagten die Händler. »Nur zu Weihnachten.«
    Ihm blieb nichts anderes übrig, als nach Auror zurückzuradeln. Hinter seinem Rad zog er einen selbstgebauten Anhänger (aus Holzresten, vom Baryner Holzhof stibitzt), und die Räder dieses Anhängers quietschten spöttisch, während er Kilometer um Kilometer hinter sich ließ. Die gähnende Leere von Inas 65. Geburtstag kam Lev vor wie ein verlassenes Bergwerk.
    Lev bewegte sich vorsichtig in seinem Sitz und versuchte, Lydias Schlaf nicht zu stören. Er lehnte seinen Kopf an die kühle Fensterscheibe. Dann musste er an das Bild denken, das ihn damals am Straßenrand irgendeines verlorenen Dorfs empfangen hatte: eine alte Frau in Schwarz, schweigend auf einemStuhl vor ihrem Haus, und neben ihr ein Plastikkinderwagen mit einem schlafenden Baby darin. Und zu ihren Füßen ein Sammelsurium von Dingen zum Verkauf: ein Grammophon, ein paar Waagen und Gewichte, ein bestickter Schal, ein lederner Blasebalg. Und ein Karren voller Weihnachtssterne, mit Blättern, die sich gerade rot färbten.
    Lev hatte auf dem Rad geschlingert und sich gefragt, ob er träume. Er setzte einen Fuß auf die staubige Straße. »Das sind Weihnachtssterne, Großmütterchen, oder?«
    »Heißen die so? Ich nenne sie rote Fahnen.«
    Er kaufte sie alle. Der Anhänger war übervoll und schwer. Sein Geld war weg.
    Er versteckte sie unter Säcken, bis es dunkel war, pflanzte sie bei Sternenlicht in Inas Kübel und blieb daneben stehen und sah zu, wie der Tag anbrach, und als die Sonne auf die Pflanzen traf, verstärkte sich das Rot ihrer Blätter auf das Erstaunlichste, so wie Wüstenkrokusse nach einem Regen aufblühen. Und das war der Moment, als Lev sich eine Zigarette ansteckte. Er ließ sich auf den Stufen von Inas Veranda nieder und rauchte und schaute die Weihnachtssterne an, und die Zigarette war wie leuchtender Bernstein in ihm, und er rauchte sie bis auf den letzten Zentimeter und drückte sie dann aus, hielt sie aber weiter fest in seiner schmutzigen Hand.
    Endlich schlief Lev dann doch.
    Er erwachte, als der Bus zum Tanken hielt, irgendwo in Österreich, wie er vermutete, da die Tankstelle groß und hell war und an der einen Seite auf einem offenen Gelände eine stumme Versammlung von Lastwagen mit deutschen Aufschriften parkte, die von orangefarbenem Natriumlicht beschienen wurden. Freuhof, Bosch. Grunewald. Königstransporte ...
    Lydia war wach, und gemeinsam stiegen Lev und sie aus dem Bus und atmeten die kühle Nachtluft. Lydia legte sich eine Strickjacke um die Schultern. Lev suchte am Himmel nach Anzeichender Morgendämmerung, konnte aber keine entdecken. Er zündete sich eine Zigarette an. Seine Hände zitterten auf dem Weg zum und vom Mund.
    »Es wird kalt sein in England«, sagte Lydia. »Sind Sie darauf vorbereitet?«
    Lev dachte an sein imaginäres großes Haus mit dem fallenden Regen und dem flimmernden Fernseher und den vorbeifahrenden roten Bussen.
    »Ich weiß nicht«, sagte er.
    »Wenn der Winter kommt«, sagte Lydia, »wird es ein Schock für uns sein.«
    »Unsere Winter sind doch auch kalt«, sagte Lev.
    »Ja, aber nicht so lang. Ich habe gehört, dass in England manche Winter nie ganz aufhören.«
    »Heißt das, es gibt keinen Sommer?«
    »Doch, es gibt Sommer. Aber man spürt ihn nicht im Blut.«
    Andere Reisende aus dem Bus wanderten auf der Tankstelle umher. Einige suchten die Waschräume auf. Andere standen, genau wie Lev und Lydia, einfach da, leicht zitternd, Zuschauer, die nicht recht wussten, was sie eigentlich sahen, Angekommene, die noch nicht angekommen waren, alle auf der Durchreise und unsicher, welche Zeit ihre Uhren jetzt anzeigen sollten. Hinter dem Areal mit den parkenden Lastwagen lag die tiefe, undurchdringliche Dunkelheit der Bäume.
    Lev hatte plötzlich Lust, seiner Tochter Maya eine Postkarte von hier zu schicken, um ihr dieses nächtliche Zwischenreich zu beschreiben: den Natriumhimmel, die reglosen Bäume, den grellen Schein der Telefonzelle, die Menschen, die wie Besucher einer Kunstgalerie wirkten, ratlos vor unerklärlichen Ausstellungsstücken. Aber Maya war zu jung, um irgendetwas davon zu begreifen. Sie war erst fünf. Morgen früh würde sie Inas Hand nehmen und zur Schule gehen. Mittags würde sie kalte Wurst und Mohnbrot essen. Wenn sie nach Hause kam, würde Ina ihr Ziegenmilch mit Zimt in
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