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Der weite Weg nach Hause

Der weite Weg nach Hause

Titel: Der weite Weg nach Hause
Autoren: Rose Tremain
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können Sie denn sonst noch?«
    Lev nahm einen weiteren Schluck. Jemand hatte ihm erzählt, in England sei der Wodka zu teuer zum Trinken. Immigranten würden ihren eigenen Alkohol aus Kartoffeln und Leitungswasser brauen, und während Lev über diese fleißigen Immigranten nachsann, malte er sich aus, wie sie in einem großen Haus um ein Feuer im Kamin saßen, redeten und lachten, während draußen vor dem Fenster der Regen fiel und rote Busse vorbeifuhren und der Fernseher in einer Zimmerecke flimmerte. Er seufzte und sagte: »Ich werde jede Arbeit machen. Meine Tochter Maya braucht Kleidung, Schuhe, Bücher, Spielzeug, alles. England ist meine Hoffnung.«
    Gegen zehn Uhr wurden rote Decken an die Busreisenden verteilt, einige schliefen da schon. Lydia packte ihre Essensreste weg, hüllte sich in die Decke, knipste über ihrem Kopf ein kleines, helles Licht unter der Gepäckablage an und begann, in einem vergilbten, alten englischen Taschenbuch zu lesen. Lev sah, dass der Titel ihres Buchs The Power and the Glory lautete. Seit er den Wodka getrunken hatte, war sein Bedürfnis nach einer Zigarette ständig gewachsen, und jetzt war es dringend. Er konnte die Gier in seiner Lunge und in seinem Blut fühlen, und seine Hände wurden unruhig, und er spürte ein Zittern in den Beinen. Wie lange dauerte es noch, bis sie wieder tanken mussten? Es konnten noch vier oder fünf Stunden sein. Bis dahin würden alle im Bus schlafen, außer ihm und einem der beiden Fahrer. Sie allein würden eine einsame, ermüdende Nachtwache halten, der Fahrer angestrengt auf die Launen und Störungen der dunklen, vor ihm sich abspulenden Straße achtend; er selbst den Trost von Nikotin oder Vergessen ersehnend − und beides vergeblich.
    Er beneidete Lydia, die in ihr englisches Buch versunken war. Lev wusste, dass er sich mit irgendetwas ablenken musste. Er hatte ein Buch mit Fabeln eingepackt: unwahrscheinliche Geschichten, die er einmal geliebt hatte und die von Frauenhandelten, die sich während nächtlicher Stunden in Vögel verwandelten, und von einem Trupp wilder Eber, die ihre Jäger töteten und brieten. Aber Lev war zu aufgeregt, um solche phantastischen Sachen zu lesen. In seiner Verzweiflung zog er einen nagelneuen britischen Zwanzigpfundschein aus seiner Brieftasche, langte nach oben, knipste sein eigenes kleines Leselicht an und begann, den Schein zu untersuchen. Auf der einen Seite die vertrocknete Königin, E II R, mit ihrem Diadem, das Gesicht grau auf violettem Grund, und auf der anderen ein Mann, irgendeine Persönlichkeit aus der Vergangenheit mit einem dunklen, buschigen Schnurrbart, und über ihm ein Engel, der Trompete spielte, und aller Glanz des Engels fiel in senkrechten Strahlen auf ihn. »Die Engländer sind stolz auf die Geschichte ihres Landes«, hatte Lev in seinem Englischunterricht erfahren, »vor allem, weil sie nie von einer fremden Macht unterworfen wurden. Nur ab und an dämmert ihnen, dass einige ihrer vergangenen Taten nicht gut waren.«
    Die auf dem Geldschein angegebenen Lebensdaten des Mannes lauteten 1857−1934. Er sah aus wie ein Bankier, aber was hatte er getan, um im 21. Jahrhundert auf einem Zwanzigpfundschein zu landen? Lev starrte auf sein entschlossenes Kinn, blickte, angestrengt blinzelnd, auf den unter dem Kragen hingekritzelten Namen, konnte ihn aber nicht lesen. Er dachte, dass dieser Mensch bestimmt nie ein anderes System als den Kapitalismus gekannt hatte. Er mochte die Namen Hitler und Stalin gehört haben, aber ohne sich zu fürchten − er hätte auch nichts zu befürchten gehabt, außer den Verlust von etwas Kapital bei dem, was die Amerikaner den Crash nannten, damals, als Menschen in New York aus Fenstern und von Dächern sprangen. Er war wahrscheinlich in seinem Bett gestorben, bevor London von Bomben zerstört, bevor Europa auseinandergerissen wurde. Bestimmt hatten die Strahlen des Engels die Stirn dieses Mannes und seine altmodische Kleidung bis zum Ende seiner Tage beschienen, da die ganze Welt doch wusste: Die Engländer haben Glück . Aber, dachte Lev, jetzt fahre ich in ihr Land, und ich werde sie zwingen, es mit mir zu teilen: ihr verteufeltes Glück. Ich habe Auror verlassen, und dieser Abschied von meiner Heimat war hart und bitter, aber meine Zeit wird kommen.
    Lev wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Lydias Buch auf den Boden fiel, und er schaute zu ihr und sah, dass sie eingeschlafen war, und er studierte ihr von Leberflecken heimgesuchtes Gesicht. Er schätzte sie
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