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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Schicksal abhing, irgend etwas hatte ihm wohlgewollt. Ihm, dem Roten Jim! Nein, die Welt sollte ihn noch nicht los werden. Das hatte noch Zeit, und er hatte noch einiges vor. Nachdem er fünf Meter weitergekrochen war, wurde ihm seine Situation vollständig klar. Er befand sich in einer Höhlung des Berges, aus der der unterirdische Bach ins Freie drang.
    Schon wieder hagelte es Steine, die das Wasser aus dem Berginnern mit sich gerissen hatte. Red Jim hatte rechtzeitig die Hände schützend hinter Kopf und Nacken gelegt, so daß ihm von einem dicken Steinbrocken nur zwei Finger angeschlagen wurden. Gemütlich war das hier nicht. Er mußte sehen, wie er hinausgelangen konnte.
    Die Öffnung, durch die der unterirdische Bach ins Freie floß, war eng, aber doch nicht so eng wie jener Höhlenarm oben an der Stelle, an der Red Jim mit dem Vorwärtskommen gescheitert war. Wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, o ja, wenn er sich mit Gewalt durchzwängte, Kopf, Schultern, Hüften ­ Verflucht, schon wieder ein Steinhagel! Aber diesmal traf es nur die Beine. Unangenehm genug war es.
    Der Mann, der mit Kopf und Oberkörper schon im Freien lag und die Beine jetzt nachzog, erkannte, daß es Abend war. Irgendein Abend! Wie konnte er wissen, ob er ein, zwei oder drei oder vielleicht sogar vier Tage im Innern des Berges verbracht hatte. Der Himmel flammte in Rot und Gold. Die Bäume schimmerten noch in den Strahlen der untergehenden Sonne, die mit ihren letzten Ausläufern bis zu Quelle und Bach heranspielten.
    Mechanisch, aus Gewohnheit, schaute Red Jim nach Spuren aus. Aber er konnte keine Fährten entdecken, mit Ausnahme einiger Wildspuren, die für ihn keine Gefahr bedeuteten.
    Noch einmal trank er, dann kroch er vorsichtig, sich immer auf einem Geröllstreifen haltend, zwischen das Gebüsch und ließ sich da nieder. Zum erstenmal fand er Zeit, sich selbst zu betrachten. Wie ein Totengerippe sah er aus, mager, abgefallen. Die Hauptsache aber war, daß er trotzdem lebte.
    Er suchte nach seinem Beutel mit Trockenfleisch, fand ihn, wenn er auch nicht mehr trocken, sondern naß war, und nahm etwas von der breiig gewordenen Masse zu sich. Das tat ihm wohl. Dann schlief er ein. Er mußte Kräfte sammeln, ehe er wieder etwas unternehmen konnte. Mit dem Morgengrauen wurde er wach. Naß, wie er immer noch war, fror er erbärmlich und sehnte sich nach der Wärme der aufgehenden Sonne. Er aß wieder ein wenig Trockenfleisch, fing eine Eidechse, die sich hervorgewagt hatte, verzehrte sie und betrachtete dabei die Quelle. Die herumliegenden Steine, zum Teil von bizarren Formen, bewiesen, daß der Steinhagel von Zeit zu Zeit auch aus dem Berge herausdrang. Eine nicht ganz eingestandene Hoffnung bewegte den Mann, als er die Steine einzeln musterte. Zu seinem Bedauern war kein Goldkorn darunter. Fürs erste wollte er den Bach einen Bach und die verfluchte Höhle eine Höhle sein lassen und sich um sein Versteck im Windbruch und um die dort befindliche Büchse und die Vorräte kümmern. Hoffentlich hatten sich nicht schon irgendwelche Spürnasen dort eingefunden. Auch sein weiterer Plan war dem Roten Jim mit Sonnenaufgang schon klar. Er würde nicht ein drittes Mal versuchen, in den Höhlenarm einzudringen, der sich für ihn als unzugänglich erwiesen hatte. Vielleicht hätte ein solcher Versuch Aussicht auf Gelingen gehabt, wenn er sich Werkzeug und ein oder zwei Kumpane zur Hilfe herangeholt hätte. Aber eben das letztere wollte er nicht. Er beschloß, sich in sein Versteck zu begeben und von dort aus den Berg ringsumher zu untersuchen, ob nicht noch ein anderer Zugang zu der »verdammten Höhle« zu finden war. Er wollte sich Zeit lassen und sein Unternehmen allein durchführen. Denn wenn er Gold fand, sollte es auch ihm allein gehören. Der Rote Jim schlich mit wankenden Knien durch den Wald, sehr bedächtig, sehr langsam, sehr vorsichtig. Auch jetzt löschte er die geringste Spur, die er etwa verursacht hatte, sofort aus. Als er wieder zu dem Wildbruch gelangte und die Blöße mit den gestürzten Stämmen in der hellen Nachmittagssonne, in warmer, flimmernder Luft, liegen sah, atmete er tief auf. Er machte eine kurze Rast, überzeugte sich, daß auch hier nirgends die Spur eines Menschen zu entdecken war, und kletterte und kroch dann zwischen Stämmen, Zweigen, Wurzelwerk und Gesträuch zu seinem alten Versteck. Es war völlig unberührt. Gut so, gut. The Red legte sich hin und schlief nach einer kärglichen Mahlzeit vom Nachmittag bis
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