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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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zum Morgen des nächsten Tages. Als er wach wurde, fühlte er sich wesentlich erfrischt. Er kletterte auf den hohen Baum neben der natürlichen Laube und hielt von dem höchsten der Äste, den er erklettern konnte, ohne daß er schwankte, wieder Ausschau über Lichtung, Wald und die ferne Prärie. Menschenleer schien alles, ruhig, einsam.
    Der Rote Jim wollte den Tag nutzen. Er goß den Wassersack aus, den er leicht neu füllen konnte, nahm diesen und den Sack mit Trockenfleisch, auch Büchse und Munition mit sich und vertilgte alle Spuren seines Lagers, was ihn erhebliche Zeit kostete. Als es endlich soweit war, daß auch er selbst keine Spur mehr von sich fand, schlich er aus seinem Versteck und dem Windbruch hinaus und hinauf in den Wald. Sein erstes Ziel war hoch oben der versteckt liegende Ausgang eines Höhlenarmes, in dem er im Frühling dem zahnlosen Ben überraschend begegnet war. Miteinander waren sie nach ihrem Zusammentreffen aus der Öffnung herausgestiegen, die sich zwischen Moos und Wurzeln jedem nicht sehr aufmerksamen Auge verbarg. Ihre Unterhaltung war nicht gerade freundschaftlich verlaufen, denn der Rote Jim liebte es nicht, wenn sich ein anderer in seinem Revier herumtrieb, aber letzten Endes hatte er Ben doch nicht umgebracht. Aus den Beschreibungen des Zahnlosen wußte er, daß der Höhlenarm, an dessen Eingang Jim jetzt stand, zu dem unterirdischen Wasserfall führte, der im Frühjahr Ben und vor wenigen Tagen Jim mit sich gerissen hatte. Hier einzusteigen war zwecklos. Auch ein zweiter Zweigarm der Höhle, der nicht weit entfernt im Walde mündete, war für Jim nutzlos, da er sich nach Bens Aussage im Innern der Berge mit dem ersten vereinigte und somit auch auf halbe Höhe des gefährlichen Wasserfalls führte. Auf diesem Wege war nicht weiterzukommen. Aber wenn es zwei Seitenarme dieser verdammten und gottverlassenen Höhle gab, warum nicht auch drei oder vier? Der Rote Jim machte sich auf die Suche und streifte durch den Wald. Seine Perücke hatte er wieder aufgesetzt. Bis zum Abend hatte er nichts gefunden, was seiner Aufmerksamkeit wert gewesen wäre. Die monatealten Spuren des indianischen Zeltdorfes, das am Südhang auf einer Lichtung gestanden hatte, interessierten ihn nicht. Er wußte, wohin der Trupp der Oglala, der hier den Winter verbracht hatte, im Frühling gezogen war. Südwärts zum Pferdebach war diese Jagdabteilung gewandert, die sich die »Bärenbande« nannte. Das war in jenen Tagen gewesen, als der Rote Jim mit Ben überraschend in der Höhle zusammentraf. Von diesem Indianertrupp befürchtete The Red nichts. Er glaubte nicht, daß die Bärenbande mitten im Sommer, mitten in der Hoffnung auf die bevorstehenden großen Herbstjagden auf Büffel, ihr jetziges Standquartier am Pferdebach mit Weibern und Kindern verlassen würde. Aber es war möglich, daß andere Stammesabteilungen in die Gegend kamen, in der sich The Red umhertrieb. Die Black Hills waren altes Jagdgebiet der Dakota, und jeder Weiße mußte sich hier in acht nehmen.
    Jim übte auch weiterhin bei jedem Schritt die größte Vorsicht. Als die Sonne sank, kletterte er auf einen hohen Baum, nicht weit entfernt von dem früheren indianischen Zeltplatz, und überschaute wieder den Wald und die Prärie, die er mehr und mehr als sein Reich betrachtete. So vergingen dieser Tag und die folgenden Tage. Red Jim lebte verborgen und suchte, was er nicht fand. Er jagte nicht, sondern nährte sich nur von seinem Vorrat und von Getier, das er greifen konnte, ohne Spuren zu verursachen. Dazu gehörten auch Fische in dem Bach, der im Innern des Berges entsprang und dann den Waldhang auf der Südwestseite hinabsprudelte. Es waren schon viele Wochen vergangen, als der Mann wieder einmal am Ufer dieses Baches eine Regenbogenforelle roh gefrühstückt hatte.
    Dieses Frühstück sättigte ihn und gab ihm vom Magen her ein Gefühl des Befriedigtseins, das er schon lange nicht mehr empfunden hatte. Im Gegenteil, manchmal beschlich ihn eine dumpfe Angst, daß er bei seiner vergeblichen Suche noch verrückt werden müsse. Jeden Tag von früh bis spät auf jeden Tritt und Handgriff aufmerken; jeden Tag von früh bis spät das gleiche denken: Gold ­ Höhle ­ Wasser ­ Indianer; jeden Morgen mit neuer Hoffnung beginnen und jeden Abend mit wachsender Enttäuschung eine Etappe der Suche abschließen; ein solches Leben konnte auf die Dauer auch einen Starken mürbe machen. The Red mußte sich einmal eine Stunde Ruhe gönnen und genau
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