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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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fliehenden Bären nachgeschaut und noch einmal aufgelacht. Als das Raubtier verschwunden war, schlug er sich auf den Mund, sagte leise »Dummkopf« zu sich selbst und verkroch sich, um zwischen Buschwerk und Stämmen hindurch auf den Windbruch am Hang Ausschau zu halten.
    Als er sich überzeugt zu haben glaubte, daß außer ihm selbst und dem Getier aller Art nichts und niemand im Wald und auf der Blöße unterwegs war, regte er sich wieder. Mit aller Umsicht, deren Jäger wie Gejagte in der Wildnis fähig werden, ging er die hundert Meter durch den Wald am Rande des Windbruchs. Er überzeugte sich bei jedem Schritt und jedem Griff, daß er keine Spur hinterließ, und wenn dies doch der Fall war, nahm er sich Zeit, um sie unsichtbar zu machen. Als er den Windbruch erreicht hatte, kletterte er, gewandter noch als der Braunbär, durch das Gewirr der gestürzten Stämme, der dörrenden Baumkronen und des herausgerissenen Wurzelwerks. Auch er strebte zu dem einzigen Baumriesen, der der Gewalt des Wirbelsturms entgangen war. Aber es lag nicht in seiner Absicht, den Bienenstock auszurauben. Er umging den Baum, näherte sich von der dem Astloch abgewandten Seite und besah einen Unterschlupf, den er schon vom Rande der Blöße her entdeckt hatte. Die Zweige einer Baumkrone, an denen verwelkte und auch noch einige grünende Blätter hingen, die Wurzeln eines anderen Baumes und etliches Gesträuch bildeten eine Art natürlicher Laube. Der Mann kroch darunter, zog das Messer und schnitt Zweig- und Wurzelgewirr etwas aus, so daß er sich freier bewegen konnte. Zwei Ledersäcke, die er bei sich trug, und seine Büchse verstaute er im verborgensten Winkel. Dann prüfte er mit den Augen die Möglichkeit, von seinem Versteck zu dem mächtigen Baume und in dessen Krone zu gelangen, und probierte den Weg, der ihm dafür geeignet schien, auch gleich aus. Hoch oben in der dicht belaubten Baumkrone fand er den gewünschten Sitz auf einem Ast, der immer noch stark genug war, um nicht zu schwanken. Das Schwanken eines Astes hätte etwaige verborgene Feinde aufmerksam machen können. In aller Ruhe spähte der Mann aus seinem Versteck umher, über die Baumwipfel an den Berghängen, über die Prärien am Fuße des Gebirgsstocks, die im Mittagsglast lagen und sich mit ihren begrasten und sandigen Bodenwellen im Dunst verloren. Gegen Südosten zu erkannte er in der Ferne Ödland und bizarre Felsen.
    Die aufgestörten, immer noch unruhigen Bienen waren dem Manne lästig, aber doch nicht mehr als eine ärgerliche Empfindung wert. Er rührte sich nicht, nur hin und wieder nahm sein Blick eine andere Richtung.
    Hoch über den Wäldern kreisten zwei Raubvögel. Die Ruhe des Mittags, die Stille der Wildnis, die Regungslosigkeit der Baumwipfel machten den Mann zufrieden. Allein zu sein und weithin nirgends einen anderen Menschen zu wissen, das war im Augenblick alles, was er sich wünschte.
    Er blieb in der Baumkrone bis gegen Abend, so regungslos, als wäre er selbst ein Ast. Als die Sonne sich tiefer neigte, kletterte er behende, ohne Äste zu bewegen, geräuschlos hinab und kroch in sein Versteck. Hier öffnete er erst den einen Sack, entnahm ihm eine halbe Handvoll getrocknetes und gemahlenes Büffelfleisch und ließ es auf der Zunge zergehen, um es langsam zu schlucken. Dann gestattete er sich einen Schluck Wasser aus dem zweiten Sack. Das war seine Mahlzeit an diesem Tage. Mehr brauchte er nicht, denn er war gut bei Kräften, und sein Körper konnte einige Zeit hindurch zusetzen. Für eine Viertelstunde streckte er sich aus und ruhte. Dabei dachte er, was er nur äußerst selten zu tun pflegte, an sich selbst und sein bisheriges Leben. Er dachte daran, weil er hoffte, daß sich in der beginnenden Nacht dieses Leben endgültig, für immer, ändern sollte. Nein, das war falsch gedacht. Es konnte sich nicht so schnell verändern. Aber die eine große Wendung, der alles andere folgen sollte, mußte in dieser Nacht eintreten. Sie mußte!
    Der Mann, der seinen Willen darauf konzentrierte, mochte zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Jahre alt sein. Wie alt er war, wußte er selbst nicht genau, denn er besaß keinen Geburtsschein, und kein Schreiber in der Welt hatte, mit seiner Feder den Moment notiert, in dem dieser Mann als ein Kind das Licht erblickt und zu schreien begonnen hatte. Er kannte weder seinen Vater noch seine Mutter, hatte auch nie Genaueres gehört, wer sie gewesen waren. Seine früheste Erinnerung war der krachende Sturz eines gefällten
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