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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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Nein, nicht schicken – sie geht ja ins Theater, sie kann sie ihm persönlich überreichen! Denn es gibt doch so etwas wie Garderoben, in denen man die Schauspieler besuchen kann? Das hat sie jedenfalls im Film gesehen.
    Sie muss kichern. Die Idee ist ja der pure Wahnsinn. Sie versucht, es vor sich zu sehen. Sie im Theater, in Gott weiß welchem Kleid. Na, das ist wohl egal, sie ist schon seit einer Ewigkeit keine Augenweide mehr. Aber trotzdem, wie sie vor dem jungen Schauspieler steht, mit ihrem Brief, der Einladung, wie sie ihn aus der Tasche zieht und ihm überreicht, ihm, der eine so unglaubliche Ähnlichkeit mit dem anderen hat, dass er, wenn es nicht so etwas wie Zeit gäbe,
tatsächlich
der andere wäre. Und wenn es nicht so etwas wie Zeit gäbe, wäre sie jung und schön, und alles könnte noch einmal von vorn beginnen. Sie mit dem Brief, den sie vor langer Zeit hätte schreiben sollen. Einen anderen Brief, mit einer ganz anderen Nachricht. Der
richtigen
Nachricht, die ihn dazu gebracht hätte, in die andere Richtung durch den Wald zu rennen, über die Grenze anstatt direkt in die Arme seiner Henker.
    Sie seufzt schwer, spürt den Klumpen in sich. Den alten zähen Klumpen, der sie ausfüllen und alles schwarz machen wird, wenn sie nicht aufpasst. Sie versucht, einen Gedanken zu finden, der sie ablenken kann, aber es gelingt ihr nicht, etwas anderes vor sich zu sehen als den Waldsee. Den kleinen Weiher in der Nähe der Hütte. Wie sie hineinging, untertauchte und sich vorstellte, nie wieder an die Oberfläche zu kommen. Wie sie die Augen öffnete und auf den schlammigen Grund starrte und sich zwang, unten zu bleiben, bis sie so schlaff wie ein Lappen war. Sich vorstellte, dass sie den Mund öffnete, um Wasser in die Lungen zu saugen, sie ganz zu füllen, bis sie platzten. So, wie sie es verdiente. Sie schaffte es nicht. Kam am Ende immer wieder hoch, schnappte nach Luft, erleichtert und beschämt zugleich. Ich rette nicht mich, hatte sie da gedacht. Nur das Kind. Aber das war eine Lüge. Sie dachte nicht an das Kind. Wollte es ja gar nicht haben. Das Kind war an allem schuld. Sie war es, die leben wollte. Es gibt immer Überlebende.
    «Solange es Leben gibt, gibt es Hoffnung», murmelt sie. «Und es muss doch noch möglich sein, etwas wiedergutzumachen.»
    Sie erhebt sich, schlurft in den Flur und steigt die Treppe ins Obergeschoss hinauf. Wilhelms ehemaliges Zimmer ist längst zu einem Nähzimmer geworden. Sie öffnet den Sekretär, zieht die oberste Schublade auf und findet das Schreibset, die Doppelkarten mit Blumensträußen darauf. Sie sucht eine schöne Karte mit Maiglöckchen, Leberblümchen und Buschwindröschen aus, hübsche Dinge, die zum Frühling gehören. Schreibt. Es ist nicht so wichtig, was genau, Hauptsache, die Adresse ist dabei, Telefonnummer, Datum und Uhrzeit der Feier. Er weiß ja, wer sie ist, auch wenn er sich vom Aussehen her vielleicht nicht mehr an sie erinnert. Er war ja noch so klein, als sie ihn zuletzt gesehen hat. Aber es wird ihm alles wieder einfallen, wenn er einen Blick auf den Umschlag wirft. Er wird ihre Handschrift von den früheren Briefen wiedererkennen. Sie steckt die Karte in den Umschlag und will ihn gerade zukleben, als sie innehält.
    Selbst wenn es ihr gelingt, den Brief zu überreichen – welche Garantie hat sie, dass er auch wirklich kommt? Die jungen Leute heutzutage haben ja so viel um die Ohren. Vielleicht ist es nicht genug, dass er endlich seine Oma wiedersehen kann, nach so vielen Jahren. Ob sie etwas in den Umschlag hineintun soll? Ein kleines Geschenk, sodass er gar nicht anders kann, als zu kommen? Etwas Spannendes, das seine Neugier weckt? Hat sie so etwas?
    Sie zieht die anderen Schubladen des Sekretärs auf. Kramt durch Packpapier, Geschenkpapier und Schleifen, Schreibsachen, Packschnur in verschiedenen Stärken, Gummibänder und Mottenkugeln, fest in Plastiktüten verpackt, trotzdem riechen sie stark. Öffnet die letzte Schublade und findet einen Haufen alter Schlüssel. Sie nimmt sie heraus, legt sie nebeneinander auf den Tisch und versucht sich zu erinnern, zu welchen Türen sie passen.
    «Der war für die Haustür», nickt sie. Bevor sie das Schloss ausgewechselt hat. «Und das ist der Schlüssel zur Kellertür.»
    Da ist auch ein Schlüssel für das Vorhängeschloss am anderen Keller. Dem Kohlenkeller – der nur von außen zugänglich ist. Dem Raum ohne Fenster, tief in der Erde, in dem sich nie jemand aufgehalten hat und der niemals für
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