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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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einfach ein völlig neues Leben an.
    «Natürlich ist genau das mit Wilhelm und seiner kleinen Familie passiert», nickt sie. «Sie sind weggegangen und haben nie mehr zurückgeschaut.»
    Denn warum hätten sie auch zurückschauen sollen? Bei den Berufen, die sie gewählt hatten, konnten sie ebenso gut in Amerika leben. Wilhelm als Gärtner, die blassblonde Elise als eine Art Künstlerin. In Amerika hatten sie alle Möglichkeiten, ja, und hier gab es nichts, was sie zurückgehalten hätte. Elise hatte ihres Wissens nicht einmal Familie. Ihre Mutter war wohl tot. Sie hatte nur einen Stiefvater. Aber der war ein Trunkenbold, der sich nichts aus ihr machte. Nein,
sie allein
war die engste Vertraute. Obwohl, eigentlich konnte man das wohl kaum so nennen. Im letzten Jahr, bevor sie auswanderten, hatten sie keinen Kontakt mehr gehabt. Nicht nach dieser schrecklichen Geburtstagsfeier. Wilhelm war nicht einmal vorbeigekommen, um sich zu verabschieden, bevor sie wegfuhren. Nicht, dass sie es gewollt hätte. Sie hatte wirklich nicht das Bedürfnis gehabt, ihn nach dem katastrophalen Fest wiederzusehen. Aber mit der Zeit vermisste sie die Kinder natürlich doch.
    «Sie haben dort drüben wohl Anschluss gefunden», seufzt sie. Obwohl es schon ein bisschen schwerfällt, sich vorzustellen, dass sie Wurzeln geschlagen haben, so oft, wie sie umgezogen sind. Sie öffnet das Buffet, nimmt den Schuhkarton mit den Ansichtskarten heraus, die im Laufe der Jahre gekommen sind. Postkarten mit Hochglanzfotos. Viel geschrieben hat er ja nicht, hat ihr nicht einmal jede neue Adresse mitgeteilt. Manchmal kamen ihre Briefe zurück. Aber dann, nach einer Weile, kam eine neue Karte aus einem anderen Ort. Lebenszeichen mit aufgedruckten «Holidays».
Happy
natürlich. Er wünschte ihr das, selbstverständlich. Denn er liebte sie, wie nur ein Sohn seine Mutter lieben kann. Sie
war
eine gute Mutter, und er hat sie lieb gehabt. Er
hat
sie lieb. Das hier ist der Beweis.
    Dass er ihr nie einen ausführlichen Brief geschrieben hat, das hat sie schon ein wenig betrübt. Denn auf einer Postkarte kann man nicht viel mitteilen. Fotos hat er auch nie geschickt, obwohl sie darum gebeten hat. Lasst mich doch sehen, wie groß Robin geworden ist! Wie geht es ihm? Woran hat er Spaß? Ich möchte so gerne wissen, was ich ihm zum Geburtstag schenken kann! Mit der Zeit merkte sie, dass erst recht keine Antwort kam, wenn sie zu sehr drängte. Vielleicht war das Wilhelms Art zu protestieren, vielleicht spielte seine etwas schwierige Kindheit immer noch eine Rolle. Denn dass es manchmal schon ein wenig hart war, lässt sich nicht leugnen. Er ist ja kein einfaches Kind gewesen. Wie auch immer – es konnten Jahre vergehen, bis sie wieder etwas von ihm hörte, und dann von einem ganz anderen Ort.
    Aber im Laufe der Jahre hat sich ein hübscher Stapel Postkarten angesammelt, immerhin. Und eines Tages, wenn Aslaug wieder behauptet, dass sie niemanden hat, wird sie die Karten hervorholen. Und wie nennst du das dann?
Mein
Sohn – lebt draußen in der großen Welt.
Mein
Sohn hat in New York und Chicago gewohnt!
Mein
Sohn hat gewohnt, wo die Häuser an den Wolken kratzen! So hohe Häuser hast du noch nie gesehen. Und was ist mit diesen phantastischen roten Bergen?
Mein
Sohn ist dort gewesen.
Er
hat sie gesehen. Und schau dir das an – diese Wüste, siehst du? Hier wachsen echte Kakteen!
Mein
Sohn hat dort gelebt. Und was sind schon norwegische Wasserfälle gegen
diesen
Wasserfall? Wenn das nicht Kontakt halten ist, dann weiß ich auch nicht.
    Sie blättert durch die Karten, betrachtet die Stempel, das Datum, sortiert sie. New York City, 1978 . Concord, New Hampshire, 1983 . Chicago, 1987 , San Diego, California, 1991 , San Antonio, Texas, 1995 . Las Cruses, New Mexico, 2002 . Pittsburgh, Pennsylvania, 2007 . Es wird übrigens nicht nötig sein, Aslaug irgendwas zu zeigen, denn das Wunderbare ist ja, dass er kommt. Und dann wird Aslaug
wirklich
Augen machen.
    Sie öffnet den Käfig, lockt Polly auf ihren Finger.
    «Sie wird ihn zu sehen bekommen – höchstpersönlich. Jaja.»
    Polly klettert ihren Finger hinauf, bleibt kurz sitzen, nickt mit dem Kopf.
    «Der junge Mann, stell dir vor, wenn wir ihn
auch
dazu bringen könnten, herzukommen? Zur selben Zeit? Das wäre doch was, du! Stell dir vor, wir könnten beide gleichzeitig treffen.»
    Sie denkt nach. Kann sie das machen, ihm eine Einladung schicken: Würden Sie zu meiner Geburtstagsfeier kommen, ich werde fünfundachtzig?
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