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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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das muss vergangenes Jahr im Herbst gewesen sein. Ich kann nicht begreifen, warum er unbedingt so weit laufen wollte, der alte Mann. Aber jedenfalls war er dort. Und stell dir vor, sie steht noch!»
    «Unmöglich», sagt Wilhelm. «Davon hat doch niemand gewusst.»
    Seine Kehle ist trocken.
    «Sie ist abgebrannt», sagt er wieder und schmückt die alte Lüge aus. «Ich habe dir doch erzählt, wie schnell sie in Flammen aufgegangen ist. Aber dass ich –
wir
es geschafft haben, das Feuer zu löschen, bevor es auf den Wald übergreifen konnte. Es war ein Schornsteinbrand.»
    «Na ja. Ich war auch ein bisschen überrascht, als Nils sagte, er hätte sie gesehen. Ob er sich geirrt hat?»
    Wilhelm kneift die Augen zusammen, presst den freien Daumen an die pochende Schläfe.
    «Wilhelm, bist du noch da?»
    «Ja.»
    «Ich will, dass du nach Hause kommst.»
    «So, willst du das.»
    «Es gibt etwas, was ich dir sagen muss.»
    «Was denn?»
    «Da ist früher einmal was vorgefallen.»
    «Wo?»
    «Im Wald.»
    Der Schweiß läuft ihm von der Stirn.
    «Was ist da vorgefallen?», fragt er ruhig. Ganz ruhig.
    «Kein Grund, sich aufzuregen. Ich kann dir das nicht am Telefon sagen. Das kann ich einfach nicht. Du musst kommen, Wilhelm. Du sollst die ganze Geschichte hören, bevor ich sterbe. Deine – eure Geschichte.»
    «Was für eine Geschichte!?»
    «Ich werde sie euch erzählen. Euch beiden.»
    «Uns beiden? Von wem, zum Teufel, redest du?»
    «Robin.»
    «Aber er ist doch nicht da!»
    Plötzlich sieht er den Jungen vor sich. Sein kleines Gesicht, vom Weinen verzerrt. Nein. Unmöglich. Weg, weggewischt. Für immer ausradiert.
    «Du sollst nicht so schreien, sag ich. Kannst du nicht zu – meinem Geburtstag kommen?»
    «Geburtstag?»
    «Ich werde am sechsundzwanzigsten September fünfundachtzig.»
    «Das ist ja schon in ein paar Tagen.»
    «Dann können wir uns zusammensetzen und reden. Es gibt so viel, was ich gerne erzählen würde. Über die Hütte. Über andere Dinge.»
    Er denkt angestrengt nach. Was will sie damit bezwecken? Sie konnte die Hütte doch nicht leiden. Sie hat die Stelle im Wald gehasst. Deshalb kam nie jemand dorthin. Dort war Frieden, dort war es sicher. Aber nun ist es nicht mehr sicher. Jemand kann kommen, jemand kann etwas sehen. Und was weiß sie? Kann Onkel Nils etwas gefunden haben? Etwas weitererzählt haben?
    «Ich komme», sagt er.
    «Was hast du gesagt?»
    «Ich komme.»
    «Du kommst nach Hause?»
    «Das sage ich doch.»
    «Oh, Wilhelm!»
    Sie klingt glücklich. Merkwürdig glücklich. Er sitzt mit dem Telefon in den Händen da, noch lange nachdem er aufgelegt hat.

[zur Inhaltsübersicht]
    2
    Sie atmet tief durch und lehnt sich auf dem Sofa zurück, ehe sie den Blick durch das Zimmer schweifen lässt. Die hellrote Tapete mit dem Rosenmuster, das dunkle Buffet mit den gedrechselten Beinen. Die alte Uhr auf dem Mahagonischrank. Die Kristallfiguren in der Spiegelvitrine. Die Blumenbilder. Die Gemälde. Der Esstisch mit den vier Stühlen. Dass er wirklich kommen und mit ihr zusammen am Tisch sitzen wird! Und das, wo sie schon seit Jahren keinen Besuch mehr hatte. Außer von Aslaug, natürlich. Aber die zählt ja nicht.
    Evelyn nickt dem gelbgrünen Wellensittich im Käfig zu.
    «Stell dir vor, Polly, er kommt. Endlich kommt er wieder nach Hause.»
    Polly sieht sie an und nickt mit dem Kopf. Evelyn erhebt sich vom Sofa, geht zum Vogelbauer, müht sich mit zitternden Fingern, die kleine Futterschale herauszubekommen, und öffnet die Tüte mit den Körnern. Einige rieseln auf den Fußboden, aber das macht nichts. Es sind nicht die ersten.
    Sie stellt den Futternapf wieder in den Käfig, löst die kleine Wasserflasche.
    «Und dann auch noch zu meinem Geburtstag!»
    Sie seufzt leicht, schlurft in die Küche und füllt frisches Wasser in die Flasche, schaut durch die Gardine hinaus, zur Pforte und die Straße entlang, ob sie Aslaug entdecken kann, die für gewöhnlich um diese Zeit vorbeikommt. So steht sie da und schaut eine ganze Weile. Aber niemand kommt den Berg hinauf. Keine dicke, atemlose Aslaug, die den Rollator vor sich herschiebt. Sie schlurft zurück in die Stube, befestigt die Wasserflasche am Käfig.
    «Die wird Augen machen! Wo sie doch immer denkt, ich hätte niemanden außer ihr.»
    Polly nickt, das kluge Vögelchen, bevor es den Schnabel unter die Flügel steckt und sich die Federn zurechtzupft.
    Das Telefon klingelt. Evelyn hält mitten in der Bewegung inne und starrt den Apparat an. Kann es
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