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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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zu.
    «Evelyn!», ruft sie.
    Am Handgriff hängt ein Blumenstrauß.

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    42
    Sirenengeheul folgt den Feuerwehrautos, die in entgegengesetzter Richtung an ihnen vorbeirasen. Lukas dreht sich um, schaut durch die Heckscheibe, sieht sie hinter der Kurve verschwinden. Der Rauch steht hoch über dem Wald, er reicht bis in den Himmel. Sein Pulli riecht nach Lagerfeuer. Er hustet.
    «Glaubst du, sie schaffen es, das Feuer zu löschen, Papa?»
    «Mit der Zeit schon.»
    «Der Mann hat es angezündet, oder?»
    Papa antwortet nicht, sondern starrt auf die Straße. Seine Fäuste umklammern das Lenkrad.
    «Er hat Benzin ausgeschüttet, Papa. Das machen Leute nur, wenn sie absichtlich etwas anzünden wollen. Das habe ich im Fernsehen gesehen. Warum hat er das getan?»
    Papa seufzt tief. «Er wollte wohl, dass sie verschwindet.»
    «Was?»
    «Die Hütte.»
    «Das hat er geschafft, oder?»
    Papa schlägt auf das Lenkrad.
    «Verdammt! Warum habe ich ihm nicht die Streichhölzer abgenommen!»
    Sie schweigen eine Weile. Lukas schaut aus dem Fenster. Überall Bäume. Dunkler Fichtenwald.
    «Wer war der Mann, Papa?»
    Papa betrachtet seine Hände, dann schaut er wieder auf die Straße. Nach einer langen Pause sagt er: «Vielleicht war er der Finsterling.»
    «Nein, Papa. Den Finsterling gibt es nicht. Er war bloß ein Mann. Und er war ganz, ganz arm dran!»
    Lukas fängt an zu weinen. «Und jetzt verbrennt er. Und dann ist er weg. Für immer weg.»
    Lukas weint heftig.
    «Wir haben alles versucht, was in unserer Macht stand, mein Schatz.»
    «Ja», schluchzt Lukas.
    Sie fahren an einem alten, verlassenen Haus vorbei. Der Garten ist verwildert, und die Fenster sind vernagelt. Lukas betrachtet Papa im Rückspiegel, und jetzt sieht er, dass Papa ebenfalls weint.
    «Wolf ist bei ihm. Es ist gut, dass Wolf da ist und auf ihn aufpasst.»
    «Ja», sagt Papa und wischt sich mit der Hand über die Augen.
    Die Landschaft öffnet sich. Auf der linken Seite taucht der breite Fluss auf. Er schlängelt sich neben ihnen entlang, gleitet friedlich dahin. Die Hügel sind grün mit orangefarbenen und gelben Flecken. Der Himmel darüber ist sehr blau. Lukas dreht sich noch einmal um und schaut durch die Heckscheibe. Er kann den Rauch noch immer sehen, aber er ist jetzt viel weiter weg. Am Himmel taucht ein Helikopter auf.
    «Das werde ich nie vergessen», sagt er.
    «Ich auch nicht», sagt Papa. «Aber es ist gut, dass wir uns gemeinsam daran erinnern. Dann wissen wir, wie es gewesen ist.»
    «Sollen wir Mama davon erzählen?»
    Papa begegnet seinem Blick. Ernst.
    «Ja. Wir erzählen Mama alles.»
    Erinnerst du dich an den Wald? Wie schön er war. Der Wald war so schön. Der herrliche Wald, herrliche Bäume, spitze Nadeln, schwingende Äste, Laub, das raschelte, bevor es im Herbst von den Bäumen gerissen wurde. Manchmal habe ich ein welkes Birkenblatt gepflückt. Habe es zwischen Daumen und Zeigefinger zerrieben. Es ist sofort zu Staub geworden. Gelber Staub, der vom Wind davongetragen wurde.
    Könnte ich wieder malen, würde ich die Leinwände mit den Farben des Waldes füllen. Ich würde nicht eher ruhen, bis ich sie alle gefunden hätte. Wiesenmoosgrün, Schwarzdrosseleiblau, Eichenlaubocker, Torfbeerengelb, Fichtennadelgrün, Ringeltaubengrau, Schneerandweiß, Dezembernachtschwarz und Rot wie die Flügel eines Hornklee-Widderchens.
     
    An manchen Stellen schwelt es nach wie vor. Die Bäume stehen da wie aufrechte Säulen aus Kohle, mit Glut in den Stämmen. Es gibt kein Bett mehr, keine Wände und keine Decke. Kein einziges gesprungenes Fenster, sie zerplatzten und wurden schwarz. Es gibt diesen Ort nicht mehr. Keine Erinnerung. Keine Formen, an denen man sie festmachen könnte. Ich fühle es. Merke es. Vergesse es. Der Schlaf kommt, ich lege mich hin. Alles löst sich auf und verdampft.
    Nichts ist so fruchtbar wie Asche. Irgendwann ein anderer werden, eine Blume, eine Glockenblume werden und mit dem Kopf dem Sommer zunicken. Dieser Sommer sein. Die Samen sein, die der Wind sät. Der Wind sein, eine Wolke und ein Regenschauer, der erste kräftige Schauer des Frühsommers. Es wird wieder grün werden. Alles wird grün. Das saftige Gras wird wiederkommen. Das tiefe Moos, das duftende Heidekraut. Gras und Heide decken alles zu.

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Über Kari F. Brænne
    Kari Brænne wurde 1966 in Oslo geboren. Sie studierte Kunst an der Staatlichen Norwegischen Kunstakademie sowie in Italien und an der New York Academy of Art,
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