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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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Mann.
    «Er ist richtig bleich, oder, Papa?»
    «Total bleich.»
    Er berührt die Stirn des Mannes. Sie ist feucht. Der Mann starrt ihn an. So einen Blick hat er noch nie gesehen. Wie die Augen eines Ertrinkenden. Robert nimmt seine Hand, hält sie. Und jetzt bewegt der Mann die Lippen. Er versucht etwas zu sagen. Es dauert lange, bis er es endlich ausspricht.
    «Robin», flüstert er. «Robin.»
    Die Faust des Mannes umklammert seine Hand. So fest, als hinge er über einem Abgrund und Robert müsste ihn wieder hochziehen.
    «Weißt du, was er gemacht hat? Er hat Wasser in den Brunnen geschüttet. Hiermit!»
    Lukas schwenkt einen Benzinkanister, den er auf der Erde gefunden hat.
    «Das ist wohl kein Wasser, mein Schatz.»
    Robert wendet sich wieder dem Mann zu. Entwindet ihm seine Hand. «Dann wolltest du den ganzen Scheiß wohl anzünden, was? War das dein Plan?»
    Der Mann nickt beinahe unmerklich.
    «Wo ist sie geblieben? Was hast du mit ihr gemacht?!»
    Das Gesicht des Mannes verzieht sich schmerzvoll, er kneift die Augen zusammen.
    «Schrei ihn doch nicht so an, Papa!»
    Robert atmet tief ein. «Nein.»
    Er beugt sich vor, greift dem Mann unter die Arme und hebt ihn mit aller Kraft hoch, bis er steht. Der Mann ist schwer und nicht imstande, sein Gewicht selbst zu tragen. Er klammert sich an Roberts Arme.
    «Los», sagt Robert. «Du musst ins Krankenhaus.»
    Der Mann schüttelt den Kopf, den verzweifelten Ausdruck im Blick. «Nein», flüstert der Mann. «Bitte, nein.»
    Er hat jetzt Tränen in den Augen.
    «Sch, sch», sagt Robert mit tröstender Stimme und spürt, wie ihm ebenfalls die Tränen kommen. «Schh, es wird alles gut.»
    «Ich glaube nicht, dass du ihn tragen kannst, Papa. Den ganzen Weg durch den Wald.»
    Natürlich hat der Junge recht. Vorsichtig lässt Robert den Mann wieder auf den Boden sinken, rollt ihn behutsam in die stabile Seitenlage. Die Augen des Mannes folgen jeder seiner Bewegungen. Robert legt ihm noch einmal die Hand auf die Stirn.
    «Wir holen Hilfe, okay? Bleib einfach ruhig hier liegen, wir sind bald wieder da.»
    Robert erhebt sich.
    «Komm, Lukas.»
    Sie bewegen sich den schmalen Pfad entlang durch das dichte Unterholz. Passieren die Lichtung und folgen dem Weg um den See herum. Lukas läuft voraus, Robert humpelt auf dem schmerzenden Fuß hinter ihm her.
    Erinnerst du dich an das Krematorium? Und weißt du noch, als der Mann, der dort gearbeitet hat, uns durch das kleine Fenster schauen ließ, sodass wir in den Ofen sehen konnten? Weißt du noch, wie der Tote zusammenklappte und ein Lachen ausstieß, als die Wärme ihn traf? Der Tote hat gelacht. Erinnerst du dich?
    Erinnerst du dich an die Aschebehälter? Und daran, wie wir hinter der Hecke standen und eine Urnenbeisetzung beobachtet haben? Eine trauernde Familie, die zusah, wie die Dose in die Erde hinuntergelassen wurde. Du fandst es komisch, dass sie sich um eine Blechdose mit grauem Staub versammelten. Der Staub würde darin bleiben, bis die Dose sich eines Tages auflöste, und die Asche würde zu einem Dünger für die Erde dort unten.

[zur Inhaltsübersicht]
    39
    Er folgt ihnen mit dem Blick, sieht sie hinter den Kiefern verschwinden, ins Dickicht hinein. Ein Mann und ein kleiner Junge. Der erwachsene Mann und sein Kind. Sie sprechen miteinander. Er hört sie immer noch, kann die Worte aber nicht mehr verstehen. Leben. Sie werden weiterleben. Lebt wohl.
    Wilhelm zählt mit trockenen Lippen. Zählt die Schritte, zählt die Zeit, die sie brauchen, um in Sicherheit zu sein. Sieht sie vor sich, wie sie gehen. Gleich sind sie unten am Weiher, bald darauf werden sie das Moor erreichen und dann die Schlucht. Wo sie am tiefsten ist, wo es sicher ist.
    Der zum Tode Verurteilte hat das Recht auf die Erfüllung eines letzten Wunsches. Wilhelm hat einen Wunsch. Er tastet mit der Hand, in der noch ein Rest Kraft ist. Tastet und klopft die Taschen ab. Findet die Streichholzschachtel. Sie fällt ihm drei Mal aus dem lockeren Griff, bevor er es schafft, sie aufzuschieben. Alle Streichhölzer rieseln heraus, liegen in einem Haufen auf der Brust. Er nimmt eins und versucht es an der Schachtel anzureißen, aber es geht nicht. Versucht es wieder. Und wieder.
    Er dreht den Kopf zur Seite und sieht, dass ein Stein am Brunnenrand liegt. Er hebt die Streichholzschachtel hoch und konzentriert sich nur auf diese Bewegung, darauf, sie in den Spalt zwischen Stein und Kante zu stecken. Das kostet ihn den letzten Rest an Kraft. Er reißt ein
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