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Der Wald wirft schwarze Schatten

Der Wald wirft schwarze Schatten

Titel: Der Wald wirft schwarze Schatten
Autoren: Kari F. Braenne
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«Greenwood Landscaping Inc.». Der Hund tollt glücklich hinterher.
    Wilhelm öffnet den Laderaum, lässt den Blick über die Ausrüstung wandern und überlegt, welche Waffe am effektivsten gegen den Bambus ist. Ob die kräftigste Heckenschere reicht oder ob er die Motorsäge nehmen muss. Die Stängel werden wahrscheinlich splittern und die Splitter wie Pfeile durch die Gegend schießen, denkt er. Danach wird es eine Mordsarbeit sein, die Wurzeln auszugraben.
    Er lädt die Geräte aus und trägt sie hinauf zum Garten, als er merkt, dass noch jemand im Haus ist. Hinter den halb geschlossenen Jalousien erkennt er einen Frauenkopf vor einem flimmernden Fernseher. Sie hat langes blondes Haar, ein fast jungmädchenhaftes Profil. Er tritt näher ans Fenster und betrachtet sie durch die Lamellen. Sie ist hübsch, der Mund leuchtend rot, die Augen hell unter den langen Wimpern, und ihr Hals schlank und weiß. So weiß. Er spürt ein Ziehen. Dieses Ziehen. Es durchbohrt ihn vom Herz bis hinunter in den Magen.
    Das Handy klingelt. Wilhelm zuckt zusammen, als wäre er bei etwas Verbotenem ertappt worden. Er nimmt das Gespräch an, ohne nachzusehen, wer es ist.
    «Hello», sagt er.
    «Hallo? Wilhelm?»
    «Wer ist da?», fragt er. Mund und Kehle sind wie ausgetrocknet.
    «Ich», sagt sie.
    Die Stimme klingt so spröde, als wäre sie mehr tot als lebendig. Und er sieht sie vor sich. Er sieht
sie
.
    «Erkennst du mich nicht? Ich bin es, Wilhelm», sagt sie. «Deine Mutter.»
    «Ah», sagt er nach einer Weile. «Natürlich. Jetzt höre ich es.»
    «Es ist so lange her», sagt sie mit dieser knittrigen Stimme. «Schrecklich lange. Kommst du gar nicht mehr nach Hause? Wollt ihr nie wieder zurückkommen?»
    Sie holt Luft, wartet auf Antwort und fragt dann nach einer Weile: «Wie geht es euch?»
    «Gut», lügt er wie üblich. «Uns geht es ganz gut.»
    «Robin auch?»
    Da ist ein lauernder, beinahe infamer Unterton in ihrer Stimme. Was will sie? Warum quält sie ihn?
    «Robin auch», sagt er schwerfällig.
    «Du hältst mich zum Narren, nicht?»
    «Was soll das heißen?», bellt er wütend.
    «Robin ist gar nicht
drüben
», sagt sie.
    Er versucht sich zu zügeln. «Ach was», sagt er, so ruhig er kann.
    «Er ist nicht bei dir, Wilhelm.»
    «Natürlich ist er das.»
    «Nein, ist er nicht. Ich habe ihn nämlich gesehen. Hier in Norwegen.»
    «So, du hast ihn gesehen?», sagt er mit einem kleinen Lachen und setzt sich auf die Treppe vor dem Haus, von wo er Aussicht auf den Friedhof hat. Auf manchen Grabsteinen sind hinter beschlagenem Glas verblasste Fotos der Toten zu sehen. Von hier aus kann er das natürlich nicht erkennen. Aber er weiß es. Er ist schon öfter über den Friedhof gegangen und hat es gesehen. Bilder der Toten, aufgenommen in besseren Zeiten. Viele Jahre bevor sie starben. Hinterher rausgesucht und auf dem Grabstein befestigt. Ein abscheulicher Brauch.
    «Es ist unfair, mir nicht zu erzählen, dass er hier ist», fährt sie eindringlich fort.
    «Wo hast du ihn gesehen?»
    «Ich habe ihn noch nicht getroffen. Nicht richtig.»
    «Nicht richtig? Wie denn sonst?», entgegnet Wilhelm, zu laut.
    «Schrei mich nicht an. Ich
werde
ihn treffen. Aber erst will ich ihm schreiben. Ich mache das auf jeden Fall, auch wenn er nie antwortet. Aber vielleicht antwortet er ja diesmal, jetzt, wo er hier ist.»
    Wilhelm sieht die Briefe vor sich, die in regelmäßigen Abständen in seinem Postkasten landen. Mit norwegischen Briefmarken, mit der immer zittriger werdenden Handschrift, mit seinem Namen. Noch öfter mit dem Namen des Jungen. Die Briefe, die er hastig zusammenknüllt, in Fetzen reißt, in den Mülleimer wirft. Vergessen. Er starrt auf seine Finger, auf die schmutzigen Nägel. Es ist immer Erde unter seinen Nägeln. Er schrubbt sie ständig, hält sie kurz, aber die Trauerränder sind im Handumdrehen wieder da. Sie sind immer da.
    «Ich fühle mich zurzeit nicht gut», sagt sie. «Mir ist schwindlig, und ich habe Angst, dass ich nicht mehr erlebe, wie …»
    «Unsinn, Mutter.»
    «Ich bin alt, Wilhelm. Weißt du, wie alt ich bin? Es gibt ein paar Dinge, die in Ordnung gebracht werden müssen. Das Haus. Die Sachen. Die Hütte.»
    «Was für eine Hütte?»
    «Die Hütte im Wald. Die Hütte. Du erinnerst dich doch wohl daran?»
    «Die ist weg», sagt er schnell. «Abgebrannt.»
    «Nein, ist sie nicht! Erinnerst du dich an Onkel Nils? In den letzten Jahren bevor er starb, hatten wir wieder Kontakt. Er ist durch den Wald gewandert,
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