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Der Utofant

Der Utofant

Titel: Der Utofant
Autoren: Johanna und Günter Braun
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hält für besonders aufschlußreich die Eßgewohnheiten der Parsimonen.
    Sie essen sechs- bis siebenmal am Tag, aber jedesmal nur eine Menge von drei bis vier Teelöffeln. Die Einnahme der Nahrung definieren sie als lebensnotwendige Genußzeit. Deren Dauer kommt dem Fremden nahezu endlos vor.
    Die Speisen, in hauchdünnen Porzellanschüsseln von Gänse-Eierschalen-Größe zubereitet, schmeckten auch mir vorzüglich. Es gibt eine unendliche Vielfalt. Bei den Parsimonen gilt es als Sport, die Zusammensetzung der Speisen zu erschmecken. Sie schmecken das zehntel Gramm Ingwer und den winzigen Tropfen Zitrone heraus. Eine gute Speise, behaupten sie, schmecke man erst nach zwei Stunden. Sie sprechen von einem Vorgeschmack, einem Mittelgeschmack und einem Nachgeschmack. Mir scheint, sie rollen die Speisen von der Zunge zum Gaumen. Als ich meinem Wirt ein belegtes Brötchen anbot, das ich noch von der Erde bei mir trug, bezeichnete er es als Pappe, die Wurstscheibe als Gummi. Er fragte, ob dieses Brötchen eine überlebensgroße Attrappe sei, ein Scheinessen, vielleicht für den Tisch der Theateraufführung eines Riesen-Dramas hergestellt. An seiner Wand hing der Spruch: Genieße nicht, um zu essen, sondern iß, um zu genießen. Der Genuß scheint auf Parsimonia anders als bei uns etwas Moralisches zu beinhalten. Immerhin scheint auch bei den Parsimonen nicht alles widerspruchslos zu laufen, manche führen den Genuß durch oder spiegeln ihn vor, um sich satt zu essen. Hinge sonst ein solcher Spruch an der Wand? Ich hatte allerdings nicht den Eindruck, daß die Parsimonen nicht satt werden.
    Anstatt mit Steinen oder Beton sind auf Parsimonia Straßen und Plätze mit Rasen gedeckt, über den sich die Bevölkerung auf hauchdünnen Sohlen bewegt. Nach parsimonischer Ansicht federt der Rasen, manchmal verwenden sie auch Moos, und trägt zur Energieeinsparung bei. Das beinah lautlose Sichfortbewegen der Parsimonen verhindert, wie sie meinen, Energieverschleiß durch Lärmstrapazen. Straßenbahnen und Züge rollen lautlos auf hohen Speichenrädern, die sich mitunter elastisch biegen, der Stahl ist von so hervorragender Qualität, die Gestänge sind statisch so ausgetüftelt, daß sie fast keine Energie benötigen. Es gibt nur Schienenverkehr, anderer ist den Parsimonen zu reibungsverlustreich.
    Aus Ersparnisgründen sprechen sie sehr leise, wenn sie das Sprechen nicht überhaupt vermeiden. Die Andeutung eines Lächelns, ein Augenzwinkern, ein Kopfschütteln tun es auch.
    Allerdings, als Schwendrich ihnen ein Taschenbuch zeigte, das er als Reiselektüre mit sich führte, lachten sie. Ein derart voluminöser Wälzer war ihnen noch nicht vorgekommen, berichtet Schwendrich, sie tragen streichholzschachtelgroße Lesegeräte mit Literaturspeicher bei sich und können bei Bedarf jedes beliebige Buch abrufen, das sie dann, so schnell oder so langsam sie wollen, vom Gerät ablesen. Es ist ihnen sogar eine Art Blättern möglich, indem sie das Gerät auf B drehen, bis sie die gesuchte Stelle finden. Auch Illustrationen können sie so betrachten und sie zu Haus an ihre Wand werfen, vor der sie in federnden Drahtgebilden sitzen, die sie Sessel nennen. Zu Kunstausstellungen, Theateraufführungen, Konzerten begeben sie sich zwecks Energieeinsparung nicht, sie genießen sie daheim in ihren dünnen Luftschichthäusern und können dabei mit den Künstlern direkt Kontakt aufnehmen.
    Parsimonische Künstler versicherten mir, ohne einen derart engen Kontakt zum Publikum würde ihnen die Kunst keinen Spaß machen. Allerdings gibt es auch das Gespräch mit einem lebendigen, greifbaren Gegenüber.
    Schwendrich hatte Gelegenheit, einen solchen Kontakt zu beobachten. Er sah den parsimonischen Schriftsteller D. mit einem Leser in einem Restaurant drei Stunden lang genußvoll mehrere hauchdünne porzellanene Eierschalen leeren. Es schien mir, als konzentrierten sich die beiden ganz auf das Essen. Hin und wieder fielen ein paar Worte. Na ja, sagte der Leser nach einer Stunde, und nach einer weiteren, besonders Seite 54 bis 69. So, sagte der Autor.
    Beim Abschied nickten sie sich zu, das gilt auf Parsimonia als besonders ausschweifende Herzlichkeit. Ich habe einen Leser gesehen, der eine Seitenzahl anführte und energiesparend ganz schwach den Kopf bewegte. Der Autor ihm gegenüber hob die Brauen, was heißen sollte, der Leser möchte sich genauer äußern. Der schob ihm einen Seidenpapierstreifen mit seinen Argumenten zu. Der Autor steckte ihn in die Tasche.
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