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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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der Isolierzelle West gab. Mit der Tasche in der Hand rannte er los. Der Weg durch den Park lag noch immer im dichten Nebel. Die Klinik bestand aus einem Dutzend Pavillons, die man entweder mit der Himmelsrichtung der Region Aquitaine bezeichnete, aus der die Patienten stammten, oder einem Krankheitsbild zugeordnet hatte: Drogenabhängigkeit, Sexualkriminalität, Autismus.
    Der Pavillon West war der dritte auf der linken Seite. Freire stürzte in den Flur. Weiße Wände, beigefarbenes Linoleum, über Putz verlegte Rohre – jedes Gebäude sah gleich aus. Man wunderte sich nicht, dass manche Patienten sich verirrten, wenn sie in ihre Räume zurückkehren wollten.
    »Was ist passiert?«
    Der Pfleger grinste übellaunig.
    »Scheiße, sehen Sie denn nicht, was hier los ist?«
    Freire ging nicht auf seinen aggressiven Tonfall ein. Er warf einen Blick durch das Guckloch der Zelle. Eine nackte Frau, deren weißer Körper mit Kot und Urin beschmiert war, kauerte am Boden. Ihre Finger bluteten. Es war ihr gelungen, ganze Placken Farbe von den Wänden zu kratzen, die sie wütend zerkaute.
    »Spritzen Sie ihr drei Einheiten Loxapac«, sagte Freire mit sachlicher Stimme.
    Er kannte die Frau, konnte sich aber nicht an ihren Namen erinnern. Sie war Stammkundin in der Klinik und vermutlich am Morgen wieder einmal eingeliefert worden. Ihre Haut war so weiß wie Papier, ihre Züge spiegelten Angst wider. Ihr Körper bestand nur aus Haut und Knochen. Mit beiden Händen stopfte sie sich Farbbrocken in den Mund wie Cornflakes. Auf ihren Fingern war Blut, ebenso auf den Farbstücken und auf ihren Lippen.
    »Vier Einheiten«, verbesserte sich Freire. »Nehmen Sie lieber gleich vier Einheiten.«
    Er hatte schon lange aufgehört, sich Gedanken über die Ohnmacht der Psychiater zu machen. Für chronisch Kranke gab es nur eine Lösung – man pumpte sie mit Beruhigungsmitteln voll und wartete, bis der Anfall vorüber war. Das war zwar nicht viel, aber es half einigermaßen.
    Auf dem Rückweg ging er bei dem ihm selbst unterstellten Pavillon Henri-Ey vorbei. Hier waren achtundzwanzig Patienten aus dem Osten der Region untergebracht. Schizophrene, Depressive, Paranoiker, aber auch ein paar weniger klare Fälle.
    Am Empfang ließ er sich die Berichte über die Vorfälle des Vormittags aushändigen. Ein Weinkrampf. Rabatz in der Küche. Ein kleiner Junkie hatte irgendwo – niemand wusste, woher – ein Stück Schnur aufgetrieben und sich damit den Penis abgeschnürt. Alles Routinefälle.
    Freire ging durch den Speisesaal, in dem es nach kaltem Tabak roch. Bei den Verrückten war das Rauchen noch gestattet. Er entriegelte eine weitere Tür. Der Geruch nach hochprozentigem Desinfektionsalkohol verriet die Krankenstation. Unterwegs begrüßte er ein paar Stammkunden. Da war zum Beispiel ein dicker Mann in weißem Anzug, der sich für den Klinikdirektor hielt. Ein anderer Mann mit afrikanischen Wurzeln ging immer auf haargenau dem gleichen Weg im Flur auf und ab. Wiederum ein anderer, ein Patient, dessen Augen tief in den Höhlen lagen, schaukelte ununterbrochen auf der Stelle wie ein Stehaufmännchen.
    Auf der Krankenstation erkundigte sich Freire nach dem Mann ohne Gedächtnis. Der Pfleger blätterte im Register. Eine ruhige Nacht, ein ganz normaler Vormittag. Um zehn Uhr hatte man den Cowboy für ein neurobiologisches Gutachten in die Universitätsklinik gebracht, aber er hatte jede Art von Röntgenaufnahme strikt verweigert. An seinem Körper wurde keinerlei Verletzung gefunden; man ging daher von einer dissoziativen Amnesie aufgrund einer gefühlsmäßigen Traumatisierung aus. Das bedeutete, dass sich der Möchtegern-Texaner durch ein Erlebnis oder etwas, das er vielleicht nur mit angesehen hatte, plötzlich an nichts mehr erinnern konnte. Aber weshalb?
    »Wo ist er jetzt? In seinem Zimmer?«
    »Im Saal Camille Claudel.«
    Es ist eine der Macken der modernen Psychiatrie, ihre Abteilungen, Wege und Dienste nach berühmten Geisteskranken zu benennen. Sogar der Wahnsinn hat seine Meister. Claudel war der Name des Kunsttherapiebereichs. Freire machte sich auf den Weg, passierte einige verschlossene Türen und erreichte schließlich die Räume, in denen die Patienten malen und bildhauern konnten oder mit Peddigrohr und Papier bastelten.
    Er ging an Tischen vorbei, an denen getöpfert und gemalt wurde, und erreichte den Bereich der Flechtarbeiten. Mit konzentrierter Miene flochten Patienten hier Körbchen und Serviettenringe aus Peddigrohr. Biegsame
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