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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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auf, in dem Anne-Marie untergebracht war. Noch immer sah er jedes Detail vor sich: den Linoleumboden, die Türen mit den Gucklöchern, seine Chipkarte, die es ihm ermöglichte, jeden Bereich zu betreten. Als Schatten im Schatten wurde Mathias von seinem Verlangen geleitet. Oder eigentlich eher vorwärtskatapultiert. Jede Nacht durchquerte er den Saal, in dem Kunsttherapie angeboten wurde. Immer senkte er den Blick, um Anne-Maries Bilder nicht sehen zu müssen. Sie malte schwarze, verzerrte, obszöne Wunden auf rotem Untergrund. Manchmal zerschnitt sie auch die Leinwand mit dem Spachtel, wie Lucio Fontana. Wenn Mathias Anne-Maries Werke bei Tageslicht betrachtete, wusste er, dass die junge Frau eine der gefährlichsten Patientinnen der Klinik war. Bei Nacht aber wandte er den Blick ab und stahl sich in ihre Zelle.
    Diese Nächte hatten ihn für immer gezeichnet. Leidenschaftliche Umarmungen hinter verschlossenen Türen. Geheimnisvolle, fesselnde, inspirierende Zärtlichkeiten. Verrückte, geflüsterte Worte. »Achte nicht auf sie, mein Liebling … Sie sind nicht böse …« Sie sprach von den Geistern, von denen sie sich in der Dunkelheit umgeben glaubte. Mathias antwortete nicht, sondern starrte in die Finsternis. Unglück , dachte er. Ich renne geradewegs in mein Unglück .
    Eines Tages war er nach der Liebe eingeschlafen. Nur eine Stunde, vielleicht sogar weniger. Als er wach wurde – es musste gegen drei Uhr morgens gewesen sein –, baumelte Anne-Maries nackter Körper über dem Bett. Sie hatte sich erhängt. Mit seinem Gürtel.
    In der ersten Sekunde hatte er nichts begriffen. Er glaubte, noch zu träumen, und bewunderte die Gestalt mit den schweren Brüsten, die ihn bereits wieder erregte. Doch dann explodierte die Panik in seinem Kopf. Ihm wurde entsetzlich klar, dass alles vorbei war. Für sie. Aber auch für ihn. Er kleidete sich an, ließ die Leiche am Fensterkreuz hängen, flüchtete durch die Flure, ging den Pflegern aus dem Weg und vergrub sich in seiner Wohnung wie eine Ratte in ihrem Loch.
    Außer Atem und innerlich aufgewühlt spritzte er sich ein Beruhigungsmittel und verkroch sich mit über den Kopf gezogenem Laken in seinem Bett.
    Als er zwölf Stunden später erwachte, hatte die Nachricht längst die Runde gemacht. Niemand wunderte sich, denn Anne-Marie hatte schon mehrfach versucht, ihrem Leben ein Ende zu setzen.
    Allerdings stellte man Nachforschungen nach dem Männergürtel an. Seine Herkunft wurde nie geklärt. Mathias Freire wurde nie behelligt. Nicht einmal befragt. Anne-Marie Straub war schon länger als ein Jahr nicht mehr seine Patientin. Eine Familie besaß sie nicht. Niemand erhob Anklage; man legte den Fall zu den Akten.
    Von diesem Tag an erledigte Freire seine Arbeit wie ein Automat und nahm abwechselnd Antidepressiva und Angstlöser, die ihn einigermaßen aufrecht hielten. Er hatte nicht die geringste Erinnerung an jene Zeit. Seine Sprechstunden hielt er wie ferngesteuert und stellte konfuse Diagnosen. Nachts träumte er nie. Eines Tages erhielt er das Angebot einer Klinik in Bordeaux. Er ergriff die Gelegenheit beim Schopf, setzte die Medikamente ab, packte seine Koffer und stieg in den Zug, ohne sich noch einmal umzuschauen.
    Seit er in der Klinik in Bordeaux arbeitete, legte er eine neue Berufsauffassung an den Tag. Er vermied jedes persönliche Engagement. Seine Patienten waren für ihn keine Fälle mehr, sondern wie leere Felder eines Formulars, das er auszufüllen hatte: Schizophrenie, Depression, Hysterie, Zwangsstörungen, Paranoia, Autismus. Er untersuchte, verschrieb die entsprechende Behandlungsmethode und blieb auf Distanz. Man nahm ihn als kalt, abgehoben und roboterhaft wahr. Umso besser. Nie wieder würde er sich einem Patienten nähern. Und nie wieder würde er sein Ich in seine Arbeit einbringen.
    Langsam kehrte er in die Gegenwart zurück. Er stand immer noch am Küchenfenster und blickte auf die leere, nebelverhangene Straße hinaus. Sein Tee war inzwischen so schwarz wie Kaffee. Draußen wurde es immer noch nicht richtig hell. Die Häuser hinter den Hecken sahen alle gleich aus. Hinter identischen Fenstern lagen immer gleich gepolte Menschen und schliefen. Es war Samstagmorgen, da blieb man lange im Bett.
    Eine Kleinigkeit jedoch passte nicht.
    Etwa fünfzig Meter entfernt stand ein schwarzes Geländefahrzeug mit eingeschalteten Scheinwerfern am Straßenrand.
    Freire wischte die beschlagene Scheibe frei. In diesem Augenblick stiegen zwei Männer in schwarzen
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