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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Stängel vibrierten vor verbissenen, versteinerten Gesichtern. Fast wirkte es so, als ob die Pflanzenfasern ein bewegtes Eigenleben führten, während die Menschen Wurzeln geschlagen hatten.
    Der Cowboy saß am Ende des Tisches. Selbst im Sitzen überragte er die anderen um gute zwanzig Zentimeter. Immer noch beschattete der Hut seine von tiefen Falten durchzogene Haut. Die großen blauen Augen leuchteten aus seinem ledrigen Gesicht.
    Freire trat näher. Der Riese arbeitete an einem Korb in Form eines Schiffsrumpfs. Seine Hände waren schwielig. Die Hände eines Arbeiters oder eines Bauern , dachte der Psychiater.
    »Guten Tag.«
    Der Mann hob den Kopf. Er blinzelte sehr häufig, aber nicht hektisch. Sobald die Augen unter den Lidern hervorkamen, verblüfften sie durch ihre feuchte, perlmuttartige Klarheit.
    »Hallo«, grüßte er zurück und hob den Hut mit der Zeigefingerspitze kurz an, wie es vielleicht ein Rodeoreiter getan hätte.
    »Was soll das werden? Ein Schiff? Oder vielleicht ein baskischer Pelota-Handschuh?«
    »Ich weiß noch nicht.«
    »Kennen Sie das Baskenland?«
    »Keine Ahnung.«
    Freire zog sich einen Stuhl heran und setzte sich halb darauf.
    Die klaren blauen Augen hefteten sich auf ihn.
    »Bist du Spychiater?«
    Freire fiel der Buchstabendreher sofort auf. Vielleicht ein Legastheniker . Auch das Duzen registrierte er, hielt es aber für ein eher positives Zeichen. Er entschloss sich, ebenfalls zum vertraulichen »Du« überzugehen.
    »Mein Name ist Mathias Freire. Ich bin der Chef dieser Station. Gestern Abend habe ich dich hierherbringen lassen. Hast du gut geschlafen?«
    »Ich habe immer den gleichen Traum.«
    Der Mann flocht weiter. Der Dunst von Moor und feuchtem Schilf hing im Raum. Außer seinem großen Hut trug der Koloss ein T-Shirt und eine Hose aus den Beständen der Klinik. Seine riesigen, muskelbepackten Arme waren mit rötlich grauen Haaren bedeckt.
    »Erzähl ihn mir.«
    »Zuerst ist es immer sehr warm. Und dann wird alles weiß …«
    »Wieso weiß?«
    »Es ist die Sonne. Eine stechende Sonne, die alles zermalmt.«
    »Weißt du, wo der Traum spielt?«
    Der Cowboy zuckte die Schultern, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Sein Hantieren mit den langen Stängeln sah aus, als stricke er. Freire fand die Vorstellung komisch.
    »Ich gehe durch ein Dorf mit weißen Mauern. Ein spanisches Dorf. Vielleicht auch griechisch – ich habe keine Ahnung. Ich sehe meinen Schatten, der vor mir herläuft. Über die Mauern, über den Boden. Er ist sehr kurz, es muss also Mittag sein.«
    Unbehaglich rutschte Freire auf seinem Stuhl hin und her. Ehe der Riese in die Klinik kam, hatte er exakt den gleichen Traum gehabt. Ein Warnsignal?
    Zwar glaubte er nicht wirklich an C. G. Jungs Theorie des synchronistischen Prinzips, aber zumindest gefiel sie ihm. Das berühmte Beispiel des Traums vom goldenen Skarabäus fiel ihm ein: Eine Patientin berichtete Jung, dass sie von einem solchen Tier geträumt hatte, während gleichzeitig ein goldfarbener Rosenkäfer gegen die Scheibe des Behandlungszimmers flog.
    »Und was passiert dann?«, erkundigte er sich.
    »Plötzlich gibt es einen noch viel grelleren Blitz und eine Explosion, die aber keinen Lärm verursacht. Ich kann nichts mehr sehen, weil ich so geblendet bin.«
    Rechts von ihnen lachte jemand laut auf. Freire fuhr zusammen. Ein kleiner Mann mit dem grotesken Gesicht eines Wasserspeiers kauerte unter dem Tisch und beobachtete sie. Antoine, genannt Toto. Ein harmloser Irrer.
    »Versuche, dich weiter zu erinnern.«
    »Ich renne davon. Laufe ziellos durch die weißen Straßen.«
    »Ist das alles?«
    »Schon. Oder nein. Als ich weglaufe, bewegt sich mein Schatten nicht mehr. Er bleibt auf der Mauer. Wie in Hiroshima.«
    »Hiroshima?«
    »Nach der Bombe zeichneten sich die Umrisse verbrannter Menschen wie Schatten auf den Mauern ab. Wusstest du das nicht?«
    »Doch«, entgegnete Freire. Er erinnerte sich dieses Phänomens nur dunkel.
    Sie verstummten. Der Mann ohne Gedächtnis flocht weiter. Plötzlich hob er den Kopf. Seine Augen funkelten im Schatten des Stetsons.
    »Was hältst du davon, Doc? Was hat der Traum zu bedeuten?«
    »Ich denke, es handelt sich um eine symbolische Verarbeitung deines Unfalls«, improvisierte Freire. »Der weiße Blitz könnte eine Metapher für deinen Gedächtnisverlust sein. Im Grunde hat der Schock, den du erlitten hast, deine Erinnerung mit einem großen weißen Blatt überdeckt.«
    Psychiater-Geschwafel. Es klang zwar gut, aber
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