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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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anzusehen.
    »Vertrauen Sie mir«, sagte Freire. Er kämpfte gegen den Ekel an.
    Mehr noch als an Verbrennungen erinnerten die Verheerungen dieses Gesichts an eine Lepraerkrankung. An eine Krankheit, die das Aussehen nach und nach verstümmelte.
    Bei genauerem Hinsehen allerdings erkannte Freire, dass der Fall ganz anders lag: Das Narbengewebe war nicht echt. Der Mann hatte sein Gesicht mit einem synthetischen Klebstoff verunstaltet. Er hatte sich selbst entstellt, um Mitleid zu erregen und vielleicht eingewiesen zu werden. Münchhausen-Syndrom , dachte der Psychiater.
    »Kommen Sie«, wiederholte er.
    Schließlich stand der Mann auf. Freire öffnete die Tür und trat dankbar in Helligkeit und eine einigermaßen frische Luft hinaus. Sie verließen die Toiletten und damit die Kloake, nicht aber den Albtraum. Eine ganze Stunde lang unterhielt sich Freire mit dem Klebstoff-Mann und sah seine erste Annahme bestätigt: Der Besucher war zu allem bereit, um eingewiesen und therapiert zu werden. Doch zunächst überwies Freire ihn in die Universitätsklinik. Das Gesicht des Mannes musste dringend behandelt werden, denn der Klebstoff begann das Gewebe zu verätzen.
    17.30 Uhr.
    Freire ließ sich in der Notaufnahme ablösen und kehrte zurück auf seine eigene Station. Niemand war mehr da. Er setzte sich an seinen Schreibtisch, aß ein Sandwich und versuchte, sich von dem letzten Zwischenfall zu erholen. Auf der Universität hatte man die jungen Mediziner damit beruhigt, dass man sich an alles gewöhnen könne. Doch bei ihm hatte es nicht funktioniert. Im Gegenteil – es wurde immer schlimmer. Dank der ständigen Konfrontation mit Geisteskrankheiten war seine Sensibilität zu einer dünnen, ständig gereizten Membran geworden, die sich vielleicht sogar schon teilweise infiziert hatte.
    18.00 Uhr.
    Freire kehrte in die Notaufnahme zurück.
    Es war ruhiger geworden. Lediglich einige Patienten warteten noch vor der Ambulanz. Er kannte sie fast alle. Nach anderthalb Monaten an dieser Klinik war er mit den Patienten vertraut, die in regelmäßigen Abständen wiederkamen. Es waren die Kranken, die in der Klinik behandelt wurden, irgendwann in stabilem Zustand nach Hause entlassen werden konnten, ihre Neuroleptika nicht mehr einnahmen und prompt einen Rückfall erlitten. »Da bin ich wieder, Herr Doktor.«
    19.00 Uhr.
    Er musste nur noch ein paar Stunden durchhalten. Die Müdigkeit hämmerte in seinen Augenhöhlen, als wollte sie seine Lider mit Gewalt schließen. Er dachte an den Mann ohne Gedächtnis. Den ganzen Tag lang war ihm der Patient nicht aus dem Kopf gegangen. Der Fall machte ihn neugierig. Er verschanzte sich in seinem Büro, suchte die Nummer der Polizeiwache an der Place des Capucins und fragte nach Nicolas Pailhas – dem Beamten, der den Fall aufgenommen hatte. Der Polizist hatte an diesem Samstag frei. Nachdem Freire seine Position erläutert hatte, gab man ihm die Handynummer des Kommissars.
    Schon beim zweiten Läuten nahm Pailhas ab. Mathias stellte sich vor.
    »Ja bitte?« Sein Gesprächspartner wirkte nicht gerade begeistert über die Störung am Wochenende.
    »Ich wollte wissen, ob Sie in Ihren Ermittlungen weitergekommen sind.«
    »Ich bin zu Hause bei meinen Kindern.«
    »Aber Sie haben doch ein paar Anfragen losgeschickt. Sicher liegt Ihnen inzwischen die eine oder andere Antwort vor.«
    »Ich wüsste nicht, was Sie das angeht.«
    Freire zwang sich, ruhig zu bleiben.
    »Ich bin für diesen Patienten verantwortlich, und es ist meine Aufgabe, ihn zu therapieren. Das bedeutet unter anderem, dass ich wissen muss, wer er ist, damit ich ihm helfen kann, sein Gedächtnis wiederzufinden. In diesem Fall sind wir Partner, verstehen Sie?«
    »Nein.«
    Freire änderte die Taktik.
    »Ist in der Region jemand vermisst gemeldet?«
    »Nein.«
    »Haben Sie die Organisationen benachrichtigt, die sich um Obdachlose kümmern?«
    »Ist alles in die Wege geleitet.«
    »Haben Sie auch an die Bahnhöfe gedacht, die sich in der Nähe von Bordeaux befinden? Gab es in den Zügen vielleicht irgendwelche Zeugen?«
    »Wir kümmern uns darum.«
    »Haben Sie eine Suchanzeige mit einer kostenlosen Rufnummer ins Internet gestellt? Sie …«
    »Wenn uns die Ideen ausgehen, rufen wir Sie an.«
    Freire ging nicht auf den sarkastischen Tonfall ein.
    »Was hat die Analyse des Blutes auf dem Werkzeug und dem Telefonbuch ergeben?«
    »Null positiv. Es könnte also von ungefähr fünfzig Prozent der französischen Bevölkerung stammen.«
    »Wurde in
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