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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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er hatte es sich aus den Fingern gesogen. Allerdings waren einem geschädigten Gehirn schöne Worte und logische Konstrukte ziemlich egal.
    »Da gibt es allerdings ein Problem«, murmelte der Koloss. »Diesen Traum träume ich schon sehr lang.«
    »Nein, du hast nur diesen Eindruck. Es ist unwahrscheinlich, dass du dich deiner Träume vor dem Unfall erinnerst. Solche Dinge gehören zu deinen intimen, den persönlichen Erinnerungen, und genau die sind ja betroffen – verstehst du?«
    »Hat man denn mehrere Arten von Erinnerung?«
    »Es gibt so etwas wie eine kulturelle Erinnerung, die allgemeiner ist – wie zum Beispiel deine Erinnerung an Hiroshima –, und eine autobiografische Erinnerung, die dein Leben betrifft. Deinen Namen. Deine Familie. Deinen Beruf. Und eben auch deine Träume.«
    Der Riese schüttelte langsam den Kopf.
    »Ich weiß nicht, was aus mir werden soll. Mein Kopf ist wie leer gefegt.«
    »Mach dir nichts draus. Alles ist noch irgendwo erhalten. Manchmal sind solche Amnesien nur von kurzer Dauer. Sollten sie aber länger anhalten, kennen wir Möglichkeiten, mit denen wir deine Erinnerung stimulieren können – bestimmte Tests und Übungen. Wir werden dein Gedächtnis schon wieder aufwecken.«
    Der Unbekannte fixierte Freire mit seinen großen Augen, die jetzt ins Graue spielten.
    »Du hast heute Morgen im Krankenhaus abgelehnt, dich röntgen zu lassen. Warum?«
    »Ich mag das nicht.«
    »Hast du so etwas denn schon einmal gemacht?«
    Der Mann antwortete nicht, und Freire ließ es dabei bewenden.
    »Kannst du dich vielleicht heute an ein paar Dinge von gestern erinnern?«
    »Meinst du, warum ich in dieser Hütte auf dem Bahngelände war?«
    »Zum Beispiel.«
    »Leider nein.«
    »Und der Engländer? Das Telefonbuch?«
    Der Mann runzelte die Stirn.
    »Sie waren voller Blut, richtig?«
    »Ja, voller Blut. Wo kam es her?«
    Freire hatte seiner Stimme Autorität verliehen. Das Gesicht des Riesen schien zunächst zu versteinern, dann zeichnete sich Verzweiflung darauf ab.
    »Ich … Ich weiß es nicht.«
    »Und dein Name? Dein Vorname? Wo kommst du her?«
    Sofort bereute Freire die Fragen. Sie waren zu barsch und zu rasch gekommen. Die Angst des Mannes schien sich zu verstärken. Seine Lippen zitterten.
    »Wärst du einverstanden, es mit Hypnose zu probieren?«, fügte Freire mit sanfterer Stimme hinzu.
    »Jetzt gleich?«
    »Nein, morgen. Heute solltest du dich noch ausruhen.«
    »Hilft Hypnose?«
    »Ich kann dir nichts versprechen. Aber zumindest können wir es versuchen …«
    Der Pager an Freires Gürtel piepste. Er warf einen kurzen Blick auf das Display und stand auf.
    »Ich muss leider gehen. Ein Notfall. Ich möchte dich bitten, noch einmal über meinen Vorschlag nachzudenken.«
    Langsam entfaltete der Cowboy seine ein Meter neunzig und streckte Freire die Hand entgegen. Die Geste war freundlich gemeint, wirkte aber fast beängstigend.
    »Nicht nötig, Doc. Ich mache es. Ich vertraue dir. Bis morgen.«

E in Mann hatte sich in die Toiletten neben der Notaufnahme eingeschlossen und weigerte sich seit einer halben Stunde, wieder herauszukommen. Freire und ein Techniker mit Werkzeugkasten standen vor der Kabine. Nach mehreren vergeblichen Aufforderungen ließ Freire die Tür aufbrechen. Ein bestialischer Gestank schlug ihnen entgegen. Im Halbdunkel der Kabine kauerte ein Mann auf dem Boden neben der Toilettenschüssel, hielt seine Knie umschlungen und hatte den Kopf auf die Arme gelegt.
    »Ich bin Psychiater«, sagte Freire und schob die Tür mit der Schulter zu. »Brauchen Sie Hilfe?«
    »Hauen Sie ab.«
    Freire kniete sich auf den Boden, wobei er den Urinpfützen auswich.
    »Wie heißen Sie?«
    Keine Antwort. Der Mann hielt immer noch den Kopf in den Armen verborgen.
    »Kommen Sie mit in mein Büro«, sagte Freire und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
    »Ich habe doch gesagt, Sie sollen verschwinden.«
    Der Mann hatte einen Sprachfehler. Er verschluckte manche Silben und speichelte übermäßig. Von der Berührung überrascht hatte er den Kopf gehoben. Im Zwielicht konnte Freire sein missgebildetes Gesicht erkennen. Es wirkte gleichzeitig ausgehöhlt und aufgedunsen und so asymmetrisch, als wäre es aus mehreren Stücken zusammengesetzt.
    »Stehen Sie auf!«, befahl Freire.
    Der Kerl reckte den Hals. Freires erster Eindruck bestätigte sich. Das Gesicht bestand aus einer Ansammlung von geschrumpftem Fleisch, straff gespannter Haut und glänzenden Striemen. Es war entsetzlich
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