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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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reflexartig zurück und geriet dabei in den Lichtstrahl einer Laterne. Freire erkannte, dass er ihn richtig eingeschätzt hatte. Sein Gesicht wirkte gleichzeitig kindlich und unproportioniert. Er mochte etwa fünfzig Jahre alt sein; silberne Haarsträhnen quollen unter dem Hut hervor.
    »Kommen Sie. Alles wird gut.«
    Freire bemühte sich um seinen überzeugendsten Tonfall. Psychisch kranke Menschen besitzen oft eine besonders ausgeprägte Sensibilität und spüren sofort, wenn man sie zu manipulieren versucht. Es ist fast unmöglich, sie zu täuschen; man muss die Karten offen auf den Tisch legen.
    Der Mann ohne Gedächtnis setzte sich langsam in Bewegung. Freire steckte die Hände in die Taschen, drehte sich um und schlenderte betont lässig auf die Klinik zu. Er musste sich zwingen, nicht über die Schulter zurückzublicken, doch er wollte seinem Patienten zeigen, dass er Vertrauen zu ihm hatte.
    Sie erreichten das Hauptportal. Mathias atmete durch den Mund und sog die kalte, feuchte Luft ein. Er fühlte sich unendlich müde. Es lag wohl nicht nur am Schlafmangel – auch der trostlose Nebel war schuld. Und vor allem das Gefühl seiner Ohnmacht gegenüber den Geisteskrankheiten, die ihr Gesicht mit jedem Tag zu vervielfältigen schienen.
    Wie würde dieser Neue sich verhalten? Was konnte er für ihn tun? Freire wusste nur zu genau, dass die Chance, mehr über die Vergangenheit dieses Patienten zu erfahren, ziemlich gering war. Und die Chance, ihn zu heilen, tendierte gegen null.
    Aber so war nun einmal das Schicksal von Psychiatern: Man bemühte sich Tag für Tag aufs Neue, ein untergehendes Schiff mit einem Fingerhut leerzuschöpfen.

E s war neun Uhr morgens, als er in sein Auto stieg – einen zerbeulten Volvo Kombi, den er vor anderthalb Monaten bei seiner Ankunft in Bordeaux gebraucht gekauft hatte. Er hätte auch zu Fuß nach Hause gehen können, denn er wohnte nicht einmal einen Kilometer entfernt, doch er hatte sich angewöhnt, das alte Vehikel zu benutzen.
    Die psychiatrische Klinik Pierre-Janet lag im Südwesten der Stadt, nicht weit von der Universitätsklinik Pellegrin entfernt. Freire wohnte im Viertel Fleming zwischen der Uniklinik und der Universität. Fleming war ein anonymes Neubauviertel mit endlosen Reihen identischer rosa Häuser, roten Ziegeldächern, gestutzten Hecken und kleinen Gärten.
    Freire fuhr im Schritttempo durch den Nebel, der sich beharrlich hielt. Er konnte kaum etwas erkennen, doch die Stadt interessierte ihn ohnehin nicht. Man hatte ihm erklärt, Bordeaux sei eine Art kleines Paris, sehr ansehnlich und die Hauptstadt des Weins. Man hatte ihm überhaupt sehr viel erzählt, aber gesehen hatte er bisher nichts. Er fand Bordeaux spießig, hochnäsig und todlangweilig; ein unpersönliches Ballungsgebiet, wo man an jeder Straßenecke die miefige Atmosphäre einer herrschaftlichen Provinzvilla spürte.
    Das andere Gesicht von Bordeaux, die legendäre gutbürgerliche Gesellschaft, hatte er bisher noch nicht kennengelernt. Viele seiner Kollegen in der Klinik fühlten sich zu den linken Parteien hingezogen, die seit jeher den bourgeoisen Traditionen den Kampf angesagt hatten. Aber genau diese Leute waren die ewigen Miesmacher, die gar nicht merkten, dass sie selbst einen wesentlichen Teil der von ihnen verabscheuten Klasse darstellten. Freire beschränkte den Kontakt zu ihnen auf die leichte Konversation beim Mittagessen – lustige Geschichten von Verrückten, die Gabeln verschluckten, Tiraden gegen das psychiatrische System in Frankreich, Pläne für den Urlaub und den Ruhestand.
    Hätte Freire Anstalten gemacht, sich in die bessere Gesellschaft von Bordeaux einführen zu lassen, wäre er vermutlich kläglich gescheitert. Er litt nämlich unter einem maßgeblichen Handicap: Er trank keinen Wein. In der Gegend von Bordeaux findet man so etwas schlimmer, als blind, taub oder lahm zu sein. Natürlich machte ihm niemand Vorwürfe wegen dieses Mankos, doch seine Einsamkeit sprach für sich. Wer in Bordeaux keinen Wein trank, hatte keine Freunde. So einfach war das. Freire wurde nie privat angerufen und bekam weder Mails noch SMS. Seine Kommunikation beschränkte sich auf den beruflichen Austausch mit Kollegen und das Intranet der Klinik.
    Trotz der langsamen Fahrweise war er schnell zu Hause.
    Jedes Haus im Viertel trug den Namen eines Edelsteins. Topas . Diamant . Türkis . Die Namen waren die einzige Möglichkeit, die Häuser voneinander zu unterscheiden.
    Freire wohnte im Haus Opal . Bei

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