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Der Ursprung des Bösen

Der Ursprung des Bösen

Titel: Der Ursprung des Bösen
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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seiner Ankunft in Bordeaux hatte er geglaubt, er hätte sich für dieses Haus entschieden, weil es in der Nähe seines Arbeitsplatzes lag. Doch das stimmte nicht. Er hatte das Viertel ausgesucht, weil es neutral und unpersönlich war. Ein idealer Ort, um allem zu entfliehen, sich zu verbergen und in der Masse unterzutauchen.
    Er war nach Bordeaux gekommen, um einen Schlussstrich unter seine Pariser Vergangenheit zu ziehen. Nie wieder würde und wollte er der Mann sein, der er früher gewesen war: ein renommierter, kultivierter, von Gleichgesinnten hofierter Arzt.
    Er parkte wenige Meter von seinem Haus entfernt. Der Nebel war so dicht, dass die Stadtverwaltung sich entschlossen hatte, die Straßenlaternen auch am Tag nicht zu löschen.
    Seine Garage benutzte Freire nie. Als er aus dem Auto stieg, hatte er den Eindruck, in einen Pool aus Milch einzutauchen. Milliarden winziger Tröpfchen schwebten in der Luft. Der Anblick erinnerte ihn an ein pointillistisches Gemälde.
    Freire steckte die Hände in die Taschen seines Regenmantels und ging schneller. Trotz des hochgeklappten Kragens spürte er das eisige Prickeln des Nebels an seinem Hals. Er fühlte sich wie ein Privatdetektiv in einem alten Hollywoodstreifen: der einsame Held auf der Suche nach Licht.
    Er öffnete das Gartentor, überquerte die wenigen Meter feucht glänzenden Rasens und steckte den Schlüssel ins Schloss.
    Das Innere des Hauses war genauso austauschbar wie das Äußere. Die Aufteilung war immer gleich: Windfang, Wohnzimmer und Küche im Erdgeschoss, in der Etage darüber die Schlafzimmer. Alle Häuser waren mit den gleichen Materialien ausgestattet – Laminatböden, weiß verputzte Wände, furnierte Türen. Die Bewohner drückten ihre Individualität einzig durch das Mobiliar aus.
    Freire zog seinen Mantel aus und ging in die Küche, ohne Licht zu machen. Die Originalität seiner Wohnung bestand darin, dass er keine oder fast keine Möbel besaß. Der einzige Schmuck hier waren ungeöffnete Umzugskartons, die an den Wänden aufgereiht standen. Freire wohnte in einer Musterwohnung.
    Im Licht der Straßenlaternen brühte er sich einen Tee auf. An Schlaf war voraussichtlich nicht zu denken: Um 13.00 Uhr begann seine nächste Bereitschaft. Bis dahin würde er Krankenakten durcharbeiten. Wenn er schließlich gegen 22.00 Uhr Feierabend machen konnte, würde er sich vermutlich ohne Abendbrot hinter dem Fernseher verschanzen und dort auch den ganzen Sonntag verbringen. Nach einer hoffentlich gut durchgeschlafenen Nacht würde er am Montag seinen Dienst zu einer einigermaßen vernünftigen Uhrzeit wieder aufnehmen.
    Er beobachtete die Teeblätter, die sich auf dem Boden der Glaskanne entfalteten, und sagte sich, dass er möglichst bald etwas ändern müsse. Nicht mehr ständig Bereitschaftsdienste übernehmen. Einen gewissen Rhythmus in sein Leben bringen. Sport treiben. Zu festen Zeiten essen. Aber auch diese Art von Überlegung gehörte zu seinem unübersichtlichen Tagesablauf, der sich ziellos immer wiederholte.
    Er nahm das Sieb aus der Kanne und beobachtete, wie die braune Farbe sich verstärkte. Genauso sah es in seinem Kopf aus – seine Gedanken wurden immer düsterer. Es stimmt, dachte er, während er das Teesieb noch einmal eintauchte, ich habe mich in die psychischen Störungen anderer geflüchtet, um meine eigenen besser vergessen zu können.
    Vor zwei Jahren – damals war er dreiundvierzig – hatte Mathias Freire den schwersten Verstoß gegen sein Berufsethos begangen, den man sich vorstellen konnte: Er hatte in der psychiatrischen Klinik von Villejuif mit einer Patientin geschlafen. Anne-Marie Straub war eine schizophrene und manisch-depressive junge Frau, deren Prognosen nicht darauf schließen ließen, dass sie die Klinik je wieder verlassen konnte. Wenn er über den Vorfall nachdachte, konnte Freire es noch immer nicht fassen. Er hatte das Tabu aller Tabus gebrochen.
    Dabei war seine eigene Vorgeschichte alles andere als krank oder pervers. Auch wenn er Anne-Marie außerhalb der Klinik kennengelernt hätte, wäre er ihr Hals über Kopf verfallen. Er hätte das gleiche wilde, unüberlegte Verlangen gespürt, das ihn gleich beim ersten Anblick der jungen Frau in seinem Sprechzimmer überfiel. Weder Isolierzellen noch Medikamente oder die Schreie der anderen Patienten konnten seine Leidenschaft bremsen. Es war einfach Liebe auf den ersten Blick gewesen.
    In Villejuif wohnte Freire am Rand des Klinikgeländes. Jede Nacht suchte er den Trakt
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