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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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gerade gesagt: er schläft.«
    Marthe hob ihre Tasse und begegnete Louis' Blick. Sie prüfte das Grün seiner Augen, das sie sehr gut kannte, und fand darin Skepsis, Unruhe und zugleich ein brennendes Interesse.
    »Unter meinem Federbett«, fügte sie rasch hinzu. »Auf der Klappliege. Glaub nicht, daß ich dir einen Bären aufbinde, Ludwig, es ist nicht meine Art, dir die Zeit zu stehlen. Und ich mach es auch nicht, damit du wieder einsteigst, glaub bloß nicht. Es ist deine Sache, ob du es aufgeben willst, auch wenn das meiner Meinung nach Blödsinn wäre. Alles, was ich dir sagen kann, ist, daß er bei mir ist und ich nicht weiß, was ich tun soll. Du bist der einzige, der mir in so einer Sache helfen könnte, auch wenn ich mir überhaupt nicht vorstellen kann, wie du es anstellen sollst. Jedenfalls glaubst du mir nicht.«
    Louis senkte den Kopf und blieb einige Sekunden wortlos so sitzen.
    »Warum sagst du, es sei der Mörder?« fragte er leise.
    »Weil er der Typ ist, den sie in der Zeitung suchen. Er ist derjenige, den sie vor den Häusern der beiden Frauen haben warten sehen.«
    »Wenn das stimmt, warum rufst du dann nicht die Polizei, Marthe?«
    »Bist du verrückt? Damit sie ihn verhaften? Der Junge da ist Clement, und das ist, als wär's mein eigener Junge.«
    »Aha«, sagte Louis und ließ sich zurückfallen. »Mir fehlen wichtige Informationen, ich habe etwas in der Art geahnt. Glaub mir, Marthe, dir kann man heute abend nicht leicht folgen. Du erzählst alles durcheinander. Sei so gut und erzähl so, daß ich etwas von deinem Durcheinander von Mörder und Federbett verstehe.«
    »Das wird daran liegen, daß ich mit Clement gesprochen habe, das hat mir mein Hirn völlig verwirrt. In seinem Kopf geht alles durcheinander, es gibt keine Warteschlange, und so drängelt sich darin alles in alle Richtungen.«
    Marthe kramte in ihrer riesigen Handtasche aus rotem Kunstleder, holte brummelnd eine kleine Zigarre heraus und zündete sie sorgfältig an, wobei sie die Augen zusammenkniff.
    »Ich rekapituliere«, sagte sie und stieß heftig den Rauch aus. »Vor mehr als zwanzig Jahren habe ich an der Maubert-Mutualite gearbeitet. Ich hab's dir schon mal erzählt: Ich hatte die ganze Place Maubert für mich allein, und man kann wirklich sagen, daß ich auf dem Gipfel meiner Karriere war.«
    »Das weiß ich alles, Marthe.«
    »Macht nichts. Auf dem Gipfel meiner Karriere. Der ganze Platz und der Anfang der Rue Monge: Nicht der Schatten von irgendeiner andern, die es gewagt hätte, mir auch nur ein Fleckchen streitig zu machen. Ich konnte es mir erlauben, Kunden abzulehnen, ganz wie es mir paßte. Eine richtige Königin eben. Wenn es zu kalt war, habe ich zu Hause gearbeitet, aber an den schönen Tagen stand ich auf dem Trottoir, denn da ist die wahre Kundschaft, nicht am Telefon. Ich hätte dir gern gezeigt, wie ich damals gewohnt habe ...«
    »Ja, Marthe. Aber mach weiter.«
    »Ich komm schon noch dazu, drängel mich nicht. Ich verfolge meinen Faden. Und mein Faden ist das Trottoir. Weil es auf dem Trottoir nämlich auch einen kleinen Jungen gab, einen ganz kleinen Jungen, so dünn wie mein Finger«, sagte Marthe und hob Louis ihren kleinen Finger unter die Nase. »Von halb fünf an war er immer da, ganz allein. Sein Miststück von Vater wohnte in einer Bude in der Nachbarschaft, und der Kleine wartete darauf, daß man sich an ihn erinnerte, manchmal ging das stundenlang, wartete, daß man ihm die Tür öffnete, daß der Vater von der Rennbahn zurückkam, wo er arbeitete. Eine merkwürdige Arbeit, wenn du meine Meinung wissen willst.«
    Louis lächelte. Marthe wurde bisweilen auf unerklärliche Weise streng, so, als hätte sie ihr ganzes Leben als Ordensschwester gearbeitet.
    »In der Zwischenzeit blieb der kleine Clement da, bis es Abend oder bis es Nacht wurde, und wartete, bis man ihn holte. Er war acht, aber sein Miststück von Vater wollte ihm keinen Schlüssel geben, wegen der Kohle, die er bei sich eingeschlossen hatte. Er hatte kein Vertrauen in den Jungen, wie er sagte, sein Sohn sei ein Trottel und bösartig dazu, das hat er auch gesagt, wenn man das etwas ›sagen‹ nennen kann. Denn in meinem Kopf kann man solchen Dreck nicht ›Worte‹ nennen.«
    Marthe zog heftig an ihrer kleinen Zigarre und schüttelte den Kopf.
    »Sein Vater war ein Scheißkerl, nichts anderes«, sagte sie laut.
    »Red ein bißchen leiser«, sagte Louis. »Aber mach weiter.«
    Marthe schwenkte erneut ihren kleinen Finger vor Louis'
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