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Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Der untröstliche Witwer von Montparnasse

Titel: Der untröstliche Witwer von Montparnasse
Autoren: Fred Vargas
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Augen.
    »Ich sag dir, so schmal war der Junge. Klar, daß der kleine Mann einem zwangsläufig das Herz zerrissen hat. Anfangs haben wir uns einfach so unterhalten. Er war wild, eine richtige kleine Ratte. Ich weiß nicht, ob jemand anderes auch nur drei Worte aus ihm herausgebracht hätte. Und dann, wie sich so eins aus dem anderen ergab, sind wir Freunde geworden. Ich habe ihm was zu essen besorgt, weil ich nicht wußte, wann der Kleine mal gegessen hatte, von der Schulkantine abgesehen. Kurz, als der Herbst kam, hat der Kleine immer noch genauso gewartet, im Dunkeln, in der Kälte, im Regen, glaub mir, bitte. Eines Abends hab ich ihn mit zu mir genommen. So hat das angefangen.«
    » Was hat so angefangen?«
    »Na, meine Erziehung, Ludwig. Clement konnte nicht lesen, er konnte gerade mal seinen Namen schreiben. Jedenfalls konnte er überhaupt nichts, gerade ja und nein mit dem Kopf sagen und eine Dummheit nach der andern machen. Darin war er ein Meister. Ansonsten verstand er von nichts etwas, und am Anfang konnte er nur heulen und sich auf meinem Schoß zusammenrollen. Ich könnte heulen, wenn ich nur daran denke.«
    Marthe schüttelte den Kopf und versuchte, mit zitternden Lippen etwas angeberisch an ihrer Zigarre zu ziehen.
    »Laß uns was trinken«, sagte Louis rasch und stand auf.
    Er holte zwei Gläser, entkorkte eine Flasche Wein, leerte den Aschenbecher, machte eine weitere Lampe an und forderte Marthe auf, ihnen einzuschenken. Bewegung tat ihr gut.
    »Bring deine Geschichte voran, meine Liebe. Es ist fast drei Uhr morgens.«
    »Einverstanden, Ludwig. Fast fünf Jahre habe ich mich um den Kleinen gekümmert. Ich habe um halb fünf mit der Arbeit aufgehört und mich bis abends um ihn gekümmert: lesen, schreiben, auswendiglernen, sich waschen, Abendessen, na ja, ein bißchen Erziehung eben. Ich erinnere mich, daß ich ihm am Anfang nur beigebracht habe, den Kopf zu heben, um die Leute anzusehen. Und dann, Sätze zu sagen, die er gerne sagen wollte. Ich schwöre dir, daß das viel Geduld gebraucht hat. Nach anderthalb Jahren hat er gelesen und geschrieben. Nicht sehr gut, aber er hat es hingekriegt. Häufig ist er zum Schlafen dageblieben, sein Vater hat es nicht einmal gemerkt. Sonntags blieb er den ganzen Tag da. Und noch was kann ich dir sagen, Ludwig, Clement und ich, wir haben uns geliebt wie eine Mutter und ihr Sohn.«
    »Und dann, Marthe?«
    »Dann war er dreizehn, und eines Abends ist er nicht mehr gekommen. Ich habe ihn nie wiedergesehen. Später habe ich erfahren, daß sein Miststück von Vater Paris unerwartet verlassen hatte. Damit war das zu Ende. Und plötzlich«, fügte Marthe nach kurzem Schweigen hinzu, »steht er heute nachmittag da vor mir und wird wegen der Morde gesucht. Ich hab ihn gewaschen, hab ihn unter mein Federbett gesteckt, und er schläft. Verstehst du jetzt?«
    Louis erhob sich, ging im Zimmer umher und fuhr sich mit einer Hand durchs Haar. Er kannte die alte Marthe seit Jahren, aber sie hatte nie von dem Jungen erzählt.
    »Du hast mir nie von deinem Kleinen erzählt.«
    »Wozu auch? Ich wußte ja nicht, wo er steckt.«
    »Na, jetzt weißt du es. Und ich würde gerne wissen, was du mit einem Mörder in deinem Bett vorhast.«
    Marthe stellte brüsk ihr Glas hin.
    »Was ich vorhabe? Niemand kommt in seine Nähe, und niemand tut ihm was an, verstehst du? Was anderes kommt nicht in Frage.«
    Louis wühlte auf seinem Schreibtisch herum und fand die Zeitung vom Morgen. Er faltete sie auf Seite sechs auf, und legte sie mit einer etwas heftigen Geste auf den Tisch, Marthe genau vor die Augen.
    »Du vergißt ein paar Dinge, Marthe.«
    Marthes Blick richtete sich auf die Überschrift, dann auf die Gesichter der beiden toten Frauen. Ein zweites Mordopfer in Paris aufgefunden.
    »Na los«, sagte Louis. »Lies es noch mal. Die Frauen wurden mit einem Strumpf erdrosselt, mit bloßen Händen erledigt, mit einem Dutzend Stichen in den Oberkörper verziert, mit einer Schere, einem Schraubenzieher, einem Meißel oder ...«
    »Du hast mich nicht verstanden«, sagte Marthe achselzuckend. »Clement hat diese Schweinerei nicht veranstaltet. Wie kommst du auf solche Ideen? Denk dran, daß ich diesen Jungen fünf Jahre lang erzogen habe. Das ist doch was. Glaubst du, er wäre zu seiner Marthe zurückgekommen, wenn er so etwas getan hätte?«
    »Ich frage mich, Marthe, ob du die richtige Vorstellung von dem hast, was im Kopf eines Mörders vorgehen kann.«
    »Du etwa?«
    »Mehr als du.«
    »Clement
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