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Der Untergang der Telestadt

Der Untergang der Telestadt

Titel: Der Untergang der Telestadt
Autoren: Alexander Kröger
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das Umfeld. Oft mußte ich Pitt aus dem Mundwinkel heraus zuraunen, es nicht gar so auffällig zu tun.
    Ich fand Seestadt noch verwilderter als bei meinem letzten Dortsein. Die ehemals breite Straße zeigte nur noch partiell kahle Stellen, ansonsten hatte der Urwald sie beinahe zugewuchert. Offensichtlich von Fahrzeugen abgerissene Zweige lagen als Hindernisse welk und abgestorben herum, keinen der Einwohner schien das zu stören.
    Aber die Produktionsstätten schienen auf vollen Touren zu arbeiten, wir trafen wenig Menschen und wenn, dann eilige, die uns nicht im geringsten beachteten, vielleicht manchmal ein prüfender Blick, ob wir wohl Bekannte wären.
    Vom Zaun eines Kindergartens mußte ich mich, um mich nicht verdächtig zu machen, förmlich losreißen. Die Kleinen spielten im Sand, eine Gruppe sang ein altes Kinderlied, das mir Tränen in die Augen trieb… Fast hätte ich vieles von meinen Vermutungen, Befürchtungen und Vorwürfen gegen die Entwicklung der Menschheit auf Neuerde beim Anblick dieser scheinbar harmonischen Idylle zurückgenommen, wenn mir nicht noch rechtzeitig die äußerst geringe Zahl von Betreuern der Kinder aufgefallen wäre. Ich schätzte, daß sich auf dem Gelände hundert bis hundertzwanzig Kinder tummeln mochten, und ich zählte insgesamt vier Erwachsene, die sich gegen die fragenden, maulenden, streitenden Kindermünder nur schwerlich durchzusetzen vermochten. Und lange genug stand ich an dem Zaun, um festzustellen, daß es nicht nur ein Zufallseindruck war, daß andere womöglich sich im Hause aufhielten oder pausierten…
    Am nahen Schulgebäude konnte ich Pitt überzeugen, daß wir uns am Waldessaum etwas ausruhen müßten. In Wahrheit wollte ich eine Unterrichtspause abwarten und erleben. Schon nach zehn Minuten hatte ich Erfolg. Wie eh und je stürmten die Schüler, die kleineren, auf den Hof, mit Geschrei und Geplapper, eine zeitlose Erscheinung offenbar, und wie eh und je taten die Größeren gegenüber den Kleineren erhaben, zwangen sich zu gemessenen Schritten, die Mädchen bildeten Grüppchen, tuschelten…
    Aber nun geschärfteren Blicks, machte ich sogleich eine Entdeckung: Entweder ich hatte einen Tag herausgesucht, an dem man den älteren Schülern, denen der neunten und zehnten Klassen, aus irgendeinem Grund schulfrei gab, oder man hatte sie von den kleineren getrennt; denn ich schätzte die ältesten auf höchstens dreizehn Jahre.
    Zwei- bis dreihundert Schüler entströmten dem Flachbau, und sie wurden von zwei Lehrern beaufsichtigt. Und der eine war Gerd Parker, den ich nur mit Mühe und äußerster Konzentration wiedererkannte… Wir durchquerten Seestadt, ich wollte zum Fluß.
    Die Fischverarbeitung war ausgebaut worden, offenbar hatte sich das Wassergetier zu einer Hauptnahrungsquelle entwickelt. Geschäftig liefen Leute hin und her, viel wurde manuell verrichtet. Und ich sah überrascht, Pitt entzückt, wie domestizierte Echsen an einer Kurbel drehten, die zu einem Rundmesser gehörte, mit dem Fischabfälle zerkleinert wurden. Es herrschte also Personalmangel – oder hatte ich die Zähmung von Tieren einem anderen Umstand zuzuschreiben, war sie ein Ausdruck von mehr Wohlstand, hatte man ein Niveau erreicht, das mehr Erleichterung für die Menschen brachte?
    Schon beim ersten Gang durch die Stadt hatte ich den Eindruck – der sich später bestätigte –, daß einige Baulücken zu verzeichnen waren, Häuser fehlten, und mir kam die naheliegende Erklärung, es seien wohl die ehemaligen Behausungen der Umsiedler nach Bergstadt gewesen… Überhaupt erweckte die Siedlung einen lebendigen, wenn auch ein wenig schludrigen Eindruck. Man legte auf Ordnung und Schönheit offenbar wenig Wert, die Fassaden geflickt, zum Teil aus rohem Mauerwerk, zum Teil aus Holz, uneinheitlich und ästhetisches Empfinden störend. Und dann machten wir – machte ich eine erschreckende Entdeckung. Pitt fand sie zunächst eher belustigend.
    Wir hatten, vom Fluß kommend, etwas über die Hälfte unseres geplanten Rundganges absolviert und gingen auf der dicht von Büschen gesäumten Hauptstraße zum Siedlungszentrum hin, als ich Pitt in den Schutz der Gewächse zog. Vor uns erscholl ein lauter, ein abgehackter, undeutlich artikulierter, im ganzen also scheußlicher männlicher Gesang. Erst allmählich erkannte ich die Melodie von »Hoch auf dem gelben Wagen«, dem alten Volkslied, aber auch nur an den letzten, besonders lautstark gegrölten Worten »… aber der Wagen, der
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