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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm
Autoren: Uwe Tellkamp
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mit seiner Gefolgschaft von tausend Damen und Rittern in der Burg mit den zugeschmiedeten Schlössern; wieder war es ihm, als ob er sie, wie damals unter Vogelstroms mager-feingliedriger Hand, wandeln und miteinander plaudern sähe, als ob die Gesellschaft lebendig ihre heiteren Spiele spielte, während draußen die Seuche herrschte und das Land verwüstete; als ob Prospero durch die Säle im Rausch eines großen Festes ginge; Melodien wehten, der Schlag der Ebenholzuhr, die im Saal der Bilder stand, verhallte in den Weiten des Schlosses, und in den sieben Sälen davor tanzten die Menschen, denn Fürst Prospero duldete keine Traurigkeit, und in der Musik, im Gelächter und Gesang war das Gebell der Hunde draußen vor den Toren, waren die Schreie der Unglücklichen nicht mehr zu hören.
    Die Bahn wurde langsamer, rollte die letzten Meter aus. Christian, in seine Erinnerungen und Gedanken versunken, hatte kaum bemerkt, wie der Wagen in den oberen Tunnel eingefahren war, der durch die weißgekalkten Wände heller als der untere wirkte, hatte nur einen gewohnheitsmäßigen, aber nicht eigentlich wahrnehmenden Blick auf das freundlich hellgetünchte Kabinenhaus mit dem anmutig geschwungenen Dach geworfen, an das sich der Backsteinbau mit der Leuchtröhrenaufschrift »Standseilbahn«, dem Maschinenraum und dem Vestibül anschloß, wo man warten und Fotografien, frühere Modelle und technische Einzelheiten darstellend, in einer Vitrine betrachten konnte. Leicht nachfedernd kam der Wagen zum Stehen. Schnarrend öffneten sich die Türen. Christian schulterte seine Tasche und ging, immer noch gedankenversunken, über die flachen Stufen der Haltebucht auf das Gattertor des Ausgangs zu.Der Schaffner schlurfte in Richtung Vestibül, griff nach einem am Gemäuer verborgenen Knopf, das Türschloß summte, und Christian trat nach draußen. Er war zu Hause, im Turm.

2.
Mutabor
    »Schön, daß ich dich gleich abgepaßt habe, ich dachte schon, ich müßte noch mal wiederkommen.«
    »Meno! Du holst mich ab?«
    »Anne hat Robert und dich nun doch für heute ausquartieren müssen. Du schläfst bei mir.«
    »So viele Gäste?« Christian hatte nur gefragt, um durch eine beiläufig klingende Erkundigung seine Freude zu verbergen. Er wußte es ja selbst. Schon die Menge der in den letzten Wochen herangeschafften Backzutaten, die sich in der Speisekammer in der Karavelle stapelten, hatte von der zu erwartenden Zahl an Geburtstagsgästen gesprochen. Die vollen Speisekammerregale hatten ihn davon überzeugt, daß es unklug sein würde, außer zum Üben, das jedoch hauptsächlich bei Tietzes stattgefunden hatte, nach Hause in die Karavelle zu kommen, wollte man nicht die nervöse Anne durch scheinbares Herumstehen reizen und, von ihr so lange mißtrauisch beäugt, bis keine Ausrede mehr half, mit Einkaufszetteln bespickt in den Konsum oder den Holfix gescheucht werden, oder in der Küche vor immer wieder nachwachsenden Abwaschstapeln enden.
    »Zum Kaffeetrinken heute nachmittag waren wir bestimmt zu dreißig. Und nachher erst wird es offiziell, da werden schon noch einige Leute kommen.«
    Sie liefen die Sibyllenleite entlang.
    »Und wo schläft Robert?«
    »Bei Tietzes.«
    Der Bruder würde also im Haus Abendstern übernachten. Christian zog die Fäustlinge wieder an und dachte an das Tausendaugenhaus, das ihn heute nacht aufnehmen würde, in so ganz anderer Luft und Atmosphäre als daheim in der Karavelle.
    »Ich wollte dich gleich abholen, damit du nicht erst nach Hausegehst. Anne hat das Cello schon mit in die Felsenburg genommen.«
    Christian nickte und sah seinen Onkel an, der seinen Hut abgenommen und mit ein paar Strichen von Schneeflocken befreit hatte. »Seit wann trägst du den eigentlich?«
    »Hat mir Anne aus dem ›Exquisit‹ mitgebracht. Müßte mir stehen, meinte sie. Gutes Modell übrigens.« Meno betrachtete die Aufschrift auf dem Band an der Innenseite. »Jugoslawische Lieferung. Anne sagte, die Leute hätten bis vor in die Thälmannstraße gestanden, bestimmt fünfzig Meter. Für deinen Vater hatten sie keinen.« Er setzte den Hut wieder auf. »Hat alles geklappt mit dem Barometer?«
    »Wie vereinbart. Zweihundertfünfzig Mark. Lange hat es sogar noch einmal gereinigt und aufpoliert.«
    »Gut. Sag, soll ich die Tasche nehmen?«
    »Ach, die ist nicht weiter schwer, danke, Meno. Es ist sonst nur Wäsche drin.«
    Sie erreichten die Turmstraße, die Hauptachse des Viertels. Meno schritt bedächtiger aus als Christian, er hatte
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